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Knauss, Sybille: Schule des Erzählens

Was hat "Jonas im Walfisch", eine zweieinhalbtausend Jahre alte Geschichte aus der Bibel mit "American Heroe", einem Film aus Hollywoods Traumfabrik gemein? Sie wissen es nicht? Lesen Sie "Schule des Erzählens", allein diese vier Seiten sind es wert. Das Buch ist vielleicht nicht das beste Buch übers Schreiben, sicher aber das Amüsanteste, das ich kenne. Selten hat es eine Autorin verstanden so spannend über die "Geschichte hinter der Geschichte" zu fabulieren und dem Leser trotzdem wichtige Erkenntnisse über Stoff, Schauplatz, Charakter und Plot zu vermitteln. Sybille Knauss untersucht eine Vielzahl von Geschichten, Romanen und Filmen, altehrwürdige wie "Madam Bovary" und Hollywoodschnulzen wie "ET".

Das Buch gliedert sich in vier Hauptabschnitte mit den Themen "Stoff", "Schauplatz", "Charakter" und "Plot".

Im ersten Abschnitt rückt sie dem oft kolportierten Vorurteil zu Leibe, man könne seinen Stoff beliebig aus der Zeitung herauspicken:

"Tageszeitungen handeln davon, was Menschen tun, erleben, [...] erleiden [...] Sollte es jemals mißlingen, einen Stoff durch einfaches Aufschlagen einer Zeitung zu finden, kombinieren Sie zwei miteinander. [...]"

Ist es so einfach? Ja. Es ist so einfach, wie eine Frau oder einen Mann für eine Nacht zu finden. Gewußt wo und wie, kann das jeder. Aber mit Liebe hat das fast nie was zu tun. Eher mit Simulation von Liebesspiel, so wie die oben entwickelten Handlungspanoramen keine Geschichten sind, sondern Geschichten simulieren. Was nicht ausschließt, daß eine große Liebe als One-Night-Stand beginnt und daß ein Stoff aus der Zeitung zum Meisterwerk avanciert. Meine Erfahrung rät mir, auf der Suche nach Stoffen, an denen es sich zu arbeiten lohnt, zweierlei nicht aus den Augen zu verlieren: das eine ist der Mythos, das andere die zeitkritische Relevanz.

"Beides liegt verborgen. Unter der Oberfläche von Gelesenem, Gehörtem, Beobachtetem muß ich es ausmachen."

Am Beispiel ET: "Wie kann der Besucher aus dem All uns so nah kommen? [...] Die Geschichte von dem Außerirdischen, der auf der Erde mitten unter uns lebt, dann aber wieder gehen muß (heim), nachdem er Helfer und Tröster war, und noch vage verspricht, daß er vielleicht einmal wiederkommen wird aus seiner kosmischen Ferne - ist das nicht alles merkwürdig vertraut und bekannt? Die Blasphemie muß nur deutlich genug sein, damit man sie nicht mehr erkennt. [...]

Wie konnte es sein, daß 1981 ausgerechnet dieser Stoff so erfolgreich war, mit dem die Kirchen schon lange keine Besucherrekorde mehr erzielen?"

Der zweite Abschnitt handelt vom Schauplatz, ein Thema, das viele Schreibbücher stiefmütterlich behandeln: "Seit wir Jäger und Sammler waren, wissen wir, daß der Wald ein ganz besonderer Schauplatz ist. Wenn wir ihn betreten, [...] geraten wir in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit. [...] Viel zu spät fällt uns plötzlich die alte Warnung ein: Gib acht, daß du nicht vom Weg abkommst!

Du meine Güte: der Wolf!

Wie konnten wir uns so weit in sein Terrain wagen?

Wir bleiben stehen. Mit gesträubtem Haar drehen wir uns um. Keine Zuflucht. Nirgends Sicherheit. [...]"

Am Beispiel Rebecca: "Last night I dreamt, I were in Manderley again [...] so beginnt Rebecca von Daphne du Maurier. [...] Mit diesem Satz betreten wir den Bezirk der Erinnerung. Wir tun es nach Art der Träumenden, indem wir durch ein verschlossenes Tor hindurchgehen, als wäre da nichts. Von Hitchcock und du Maurier geführt, geistern wir über die Wege des Schlossparks, wo ,die Natur sich wieder ihr eigenes Reich erobert hat’. ... Blaubart ist eine Frau, des Schlossherrn erste Frau."

Ausführlich wird im dritten Teil die Rolle des Helden an den verschiedensten Beispielen dargestellt: "Nicht einmal James Bond ist unverletzlich. So wenig wie es der große blonde Siegfried ist, der immerhin im Drachenblut gebadet hat, das unverwundbar macht. Wäre ihm nicht ein kleines Lindenblatt auf die Schulter gefallen, könnte man Siegfried vergessen. [...] Er wäre irgendwann an Altersschwäche gestorben, wie so viele, die kein Mensch besingt."

Und eine ganz andere Art Heldin (Thelma und Louise): "Thelma emanzipiert sich - auch von der Gunst des Publikums. Sie läßt sich nicht mehr treiben von den Umständen. Sie ist nicht mehr das Opfer von Verhältnissen, die andere schaffen: Diesmal handelt sie. Sie überfällt einen Supermarkt und räumt die Kasse aus. Aber das Publikum ist ihr längst so verfallen, daß es ihr alles verzeiht. Wenn sie und Louise schließlich einen ganzen Tanklastzug in Flammen aufgehen lassen, jubeln sogar die Tanklastzugfahrer im Publikum. Haben sie etwa je eine Frau auf der Autobahn angemacht? Wenn ja, werden sie es niemals wieder tun [...]

Wenn Thelma am Leben bliebe, müßte sich die ganze Männerwelt ändern. [...] Schlechte Aussichten für Thelma und Louise. [...]"

Jeder, der selbst schreibt, kann die Einleitung des vierten Teils (Plot) nachvollziehen: "Was haben Scheherazade und Fernsehprogrammgestalter gemeinsam?

Die Angst.

Sie wissen beide, daß es um Sein oder Nichtsein geht und daß sie nur solange am Leben gelassen werden, wie sie unterhaltsam sind. Im Grunde erleben sie beide nichts anderes als den immerwährenden Aufschub ihrer Hinrichtung, [...] indem sie [...] etwas erzählen.

[Das Publikum] braucht sich nur leicht gelangweilt zu fühlen und schon besinnt es sich auf seine ursprüngliche Absicht - die Hinrichtung des Erzählers. Mühelos und beiläufig vollstreckt sie das Publikum, indem es weiterzappt oder ein Buch zuschlägt. Pech für Scheherazade. [...]"

Sybille Knauss gibt kein Patentrezept, wie ein Autor seine Leser fesseln kann. Gerade das Fehlen eines griffigen, alle Schreibprobleme lösenden Regelsystems ist ihre Stärke. Deshalb findet der Leser auch weit mehr in diesem Buch, als sich im Rahmen einer Rezension repitieren ließe.

So gut das Buch ist, so unsäglich ist das Vorwort. Kaum glaublich, daß eine Autorin, die so gut schreiben kann, ein derart ungenießbares Vorwort mit zwölf Geboten zu Papier gebracht hat. Aber die ersten fünf Seiten kann jeder Leser überblättern, die restlichen einhundertsechzig sind den Preis von 16,90 allemal wert.

Fischer TB Verlag, Frankfurt/Main
ISBN 3-596-12885-4

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Besprochen von: Hans Peter Röntgen
Stand: 2002-08-06

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