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Der innere Film

von Ramona Roth-Berghofer

Ein guter Film ist bis zur letzten Minute packend. Wenn Drehbuch, Regie, Schnitt, Modell- und Kulissenbau und vor allem die schauspielerische Darbietung stimmen, verläßt der Zuschauer mehr als befriedigt den Kinosaal. Es fällt leicht, sich vorzustellen, daß es dem Leser eines guten Romans ebenso geht. Zuschauer und Leser erkennen sehr wohl, ob man ihnen eine platte und abgedroschene Geschichte oder eine bis ins kleinste i-Tüpfelchen ausgefeilte Super-Story serviert. Ein langweiliger Fernsehfilm wird den ersten Werbeblock kaum überleben, ein einschläfernder Roman wird den Leser kaum bis zur mitternächtlichen Stunde bei vollem Bewußtsein halten.

Damit tragen Sie als Autor einerseits eine große Verantwortung für Ihr Werk, halten andererseits aber, wie kaum ein anderer, sämtliche Fäden Ihrer Schöpfung selbst in der Hand. Beim Drehen eines Films werden viele verschiedene Aufgaben auf viele verschiedene Personen verteilt, beim Schreiben eines Romans hängt meist alles an einer einzigen Person, dem Schriftsteller. Wenn es um Ihr Buch geht, sind Sie Drehbuchautor, Regisseur, Kulissenbauer, Maskenbildner und Schauspieler in einer Person, und je nachdem vielleicht auch Ihr eigener Produzent. Kurzum, Ihr Multitalent wird gefordert! Sie beginnen mit dem Schreiben einer Story und schaffen damit eine eigene Welt. Sie hauchen Figuren Leben ein, die es ohne Sie gar nicht gäbe. Und Sie überwinden dabei während des Entwicklungsprozesses Ihres Romans Hürden, die so mancher echten Lebenskrise in nichts nachstehen.

Aber damit noch nicht genug, die Verwandtschaft und Wechselwirkung zwischen Buch und Film geht für Sie sogar noch ein ganzes Stück weiter. Nehmen wir an, es ist Samstagmittag und Sie sitzen an Ihrer Schreibmaschine oder Ihrem Computer und beginnen mit dem Niederschreiben einer Szene, die Ihnen schon seit ein paar Tagen als Anfang für Ihre Story im Kopf herumgeht. Sie erinnern sich, wie Sie an der Bushaltestelle standen und Ihnen plötzlich "der" Schauplatz für Ihre erste Szenerie einfiel. Sie "sehen" eine karge Wüstenlandschaft in der Morgendämmerung. In der Nacht hat es gestürmt, und so bedeckt ein frischer Sandschleier, gut zwei Finger hoch, den Boden jener Bergfestung, in der Ihr Stück beginnt. Sie "sehen" die Figuren, die als erste in Ihrer Story eine bedeutende Rolle spielen, und Sie "hören" einen Teil des Dialogs, ein paar brauchbare Sätze, die Sie sich noch rasch im Bus notiert haben. Möglicherweise geht Ihre sinnliche Wahrnehmung inzwischen weiter, immerhin beschäftigt sich ihr Unterbewußtsein schon seit ein paar Tagen mit dieser Anfangsidee. Jetzt können Sie das Aroma der Wüste förmlich riechen und schmecken und bauen diese Sinneseindrücke über die Sinneswahrnehmungen ihrer Figuren in den Text ein. Mit jeder Minute, die Sie tiefer in diese fiktive Welt eintauchen, wird das Gesamtbild der Anfangsszene klarer. Konturen lösen sich auf und Details werden sichtbar. Kleine Fenster zeigen sich in den massigen Mauern der Festung, nicht größer als die Schießscharten einer Befestigungsanlage. In regelmäßigen Abständen springen Wehrtürme hervor, die sich wie gigantische Wendeltreppen in den Himmel hineinschrauben. Mehr und mehr werden sie Teil der Grundformen dieser Szene, und schließlich betreten Sie gemeinsam mit Ihren Figuren das Innere der Burg, um eins mit ihren Romanfiguren und deren Welt zu werden.

An der Bushaltestelle waren Ihre Ausgangsdaten noch vage gegen das, was Sie mittlerweile an Ihrem Arbeitsplatz aus Ihren Notizen entwickelt haben. Hier nämlich beginnt die wirkliche Auseinandersetzung mit Ihrem Stoff, das Ringen um Gefühle, um Bilder und Worte. Sie haben Entscheidungen zu treffen, für sich, für Ihre Romanfiguren und deren Schicksal - aber vor allem für Ihr Publikum, den Leser! Und gerade die Entscheidungen für Ihren Leser sind die härtesten und schwierigsten überhaupt, weil es Ihnen aufgrund der Verwobenheit mit Ihren Ideen und Ihrem Text einfach schwerfallen wird, Ihr eigenes Werk distanziert und objektiv zu betrachten, es mit den unbefangenen Augen Ihres künftigen Lesers zu sehen. Wie sollte es auch anders sein, wenn es selbst einem Profi schwerfällt, sich den Suggestionen seiner eigenen Phantasie zu entziehen. Dennoch: um Ihren Roman überzeugend zu Ende zu bringen, dürfen Sie bei allem Einswerden mit Ihrer Fiktion niemals die Distanz, die Kritik, mit einem Wort "die Regie" an Ihrem Werk vergessen. Genau dieses Können unterscheidet den Jungautor vom Profi.

Lesen Sie Ihre Arbeit, als wenn Sie die Arbeit eines anderen lesen. Ihr Buch ist kein Film, in dem einem vom Bild bis zum Ton alles "augen- und ohrenfreundlich" serviert wird. Die Parallelität der Sinneseindrücke erlaubt dem Regisseur eines Films dort einen einzigen Kameraschwenk, wo Sie als Autor viele Zeilen oder Seiten für eine Beschreibung benötigen.

In der Verfilmung von Umberto Ecos "Der Name der Rose" nehmen wir die unheilvolle Atmosphäre der Benediktinerabtei nahezu während eines einzigen Atemzugs in uns auf, während wir beim Lesen der gleichen Passage erst über viele Zeilen hinweg mit genau jenen Informationen versorgt werden, die es uns schließlich erlauben, uns ein Bild von der mittelalterlichen Abtei zu machen. Im Gegensatz zum Film kennt das Buch keine Gleichzeitigkeit der Sinneseindrücke von Auge und Ohr. Einzig das Auge des Lesers dient als Informationskanal, und damit einzig das "geschriebene Wort". Und genau das macht die einzigartige Qualität des Buches aus. Die Worte in Ihrem Roman sind weit mehr als die Beschreibung Ihrer Phantasie. Sie bilden eine eigene Form von Gedächtnis, bringen Leben in die Erinnerungen Ihres Lesers und schüren dessen Phantasie.

Beim Schreiben geht es also auch um das Imaginationsvermögens des Lesers. Kein Mensch wird beim Lesen des ersten Kapitels von "Der Name der Rose" exakt die Abtei sehen, die Umberto Eco vor Augen schwebte, auch wird Leser X nicht die gleiche Abtei wie Leser Y vor seinem geistigen Auge sehen, dennoch wird in beiden, aufgrund der äußerst lebendigen Beschreibung, ein beeindruckendes Bild des mittelalterlichen Bauwerks entstehen. Natürlich wird dabei die Imagination eines Lesers, der sich schon seit geraumer Zeit für das Klosterleben im Mittelalter interessiert um ein Vielfaches detaillierter sein, als die eines durchschnittlichen Krimifans. Aber das ist ja gerade der Punkt, an dem Ihre "Regiearbeit" als Autor mit Fingerspitzengefühl für Ausgewogenheit sorgen wird und muß.

Die Kulisse, die Figuren, die Dialoge und die Handlung in Ihrem Roman mögen aus Ihrer Sicht sehr wohl perfekt und klar sein, vor dem geistigen Auge des Lesers, konfrontiert mit Ihrem Text, kann die Sache jedoch ganz anders aussehen. Aus diesem Grund müssen Sie lernen, Ihre Arbeit distanziert mit den Augen eines Lektors zu betrachten, um das, was Sie geschrieben haben, zu verändern und ausdruckstärker zu machen. Überflüssiges wird weggeschnitten, Fehlendes hinzugefügt. Das dabei die ein oder andere Lieblingsszene mehr oder weniger zum Opfer fällt, ist sicher hart und anfangs schwer zu verkraften, dennoch sollten Sie nichts Ungeschehen lassen, um das Beste aus Ihrem Roman herauszuholen.

Nehmen Sie also Abstand und treten Sie regelmäßig aus Ihrer fiktiven Welt heraus. Anfangs bedeutet das vor allem, daß Sie den bereits geschriebenen Text für eine Weile Ruhen lassen, um ihn dann später mehr aus der Sicht eines unbefangenen Lesers lesen zu können. Schwache Stellen, flache Charaktere oder Widersprüche in der Handlung werden Ihnen leichter auffallen, weil Sie dann nicht mehr ganz so blind vor Zuneigung für Ihr Werk sind. Sie "sehen" Ihren Schauplatz, "sehen" Ihre Figuren und "hören" Ihre Dialoge, jedoch aus einer ungleich größeren Distanz. Es wird Ihnen klarer, wieviel Kulisse oder wieviel Detail Ihr Leser tatsächlich braucht, um einen wirklich guten Eindruck von Ihrer Szene zu erhalten. Wesentlich gezielter werden Sie für eine bestimmte Szene zwischen einer Panoramaaufnahme oder einem Portrait wählen.

Erinnern Sie sich. All die Phantasie in Ihrem Kopf besteht aus audiovisuellen Bruchstücken, ist Interieur einer mentalen Momentaufnahme in Ihrem Kopf, fragmentarischer Kintopp aus Ihrem Inneren. Sie verfilmen kein Buch, sondern tun das genaue Gegenteil. Sie kämpfen darum, den Film in Ihrem Innern so überzeugend und realistisch wie möglich auf unbeschriebenes Papier zu bannen, und das bedeutet immer mit Blick auf Ihre künftige Leserschaft. Ob Sie es bisher so gesehen haben oder nicht, Sie schreiben für ein Publikum, und dieses Publikum muß beim Lesen Ihres Romans die Chance haben, den Film in Ihrem Kopf so weit es irgend geht auch nachvollziehen zu können.

Genau hier schlägt Ihre große Stunde!

 
Stand: 2002-09-22

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