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Wann verletze ich den „Vertrag zwischen Autor und Leser”? Und was ist, wenn Idee nicht ganz neu ist?

Erst einmal ein großes, fettes Lob. Der Tempest ist wirklich sehr nützlich und lehrreich! Vielen Dank für Eure Mühe, die Ihr jedes Mal auf Euch nehmt. Ich kenne Eure Seite erst seit ein paar Monaten und hab es noch nicht geschafft, alle bisherigen Ausgaben zu lesen, darum vergebt mir bitte, sollte die folgende Frage schon einmal in einer Ausgabe beantwortet worden sein.
Seit zwei Jahren arbeite ich nun schon an meinem ersten Roman, der jetzt im Rohtext fertig geworden ist. Da ich dieses Jahr 18 werde, wollte ich mich nun endlich der Aufgabe stellen, ein Exposé zu schreiben und dieses einigen Verlagen vorzulegen. Keine Angst! Natürlich muss der Text zuvor noch mehrmals überarbeitet werden! Ich hab mir, nachdem ich den Artikel im Tempest gelesen habe, die zwei Bücher "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt" 1 und 2 von James N. Frey gekauft und versuche so gut wie möglich seine und Eure Tipps dabei umzusetzen.
Nun ist mir aber aufgefallen, dass mir einiges aus meinem Roman irgendwoher bekannt vorkommt. Vor kurzem durchstöberte ich mein Bücherregal, und da wusste ich dann wieder, woher mir manches bekannt vorkam. Ganz ehrlich, ich hab bestimmt nicht absichtlich Ideen geklaut. Erst vor ein paar Wochen hatte ich eine neue Idee und war ganz stolz darauf. Wenige Tage später sah ich in einer Buchhandlung ein Buch, dem diese Idee zugrunde lag!
Jetzt aber zur eigentlichen Frage. Das heißt, noch nicht ganz. Also, ich wollte gern einen Fantasyroman schreiben, in dem ein Mädchen zusammen mit seinem Freund in ein Computerspiel hineingesaugt wird und dort ein Teil der Geschichte wird. [...] Ich erzählte meiner Mutti von dem Konzept, und das Erste, was sie darauf sagte (mal abgesehen von dem mütterlichen Stolz, den man kaum ernst nehmen kann), war: "Das klingt nach diesem Film, der vor ein paar Jahren kam." Ich überlegte also, wie ich das mit dem Spiel weglassen könnte, doch mir fiel bisher noch nichts ein. Irgendwann hatten wir dann die Idee, dass das Mädchen die ganze Geschichte nur träumt. Ich hab meine Prämisse und die Hauptaussage daraufhin verändert und finde die Aussage sogar besser als die erste. Nun ist es aber so, dass James N. Frey in seinem Buch von dem Vertrag zwischen Leser und Autor erzählt. Nach seiner Aussage darf man den Leser nicht an der Nase herumführen, wo ich auch vollkommen zustimme!
Nun aber wirklich zu meiner Frage! Ich wollte, dass der Leser erst zum Schluss erfährt, dass es ein Traum war. Wäre das ein Vertragsbruch? Würde ich die eventuellen Leser damit verärgern? Hätten Sie vielleicht eine Idee?
Ich arbeite bereits nebenbei an einem zweiten Roman, den ich persönlich viel besser finde und bei dem ich nicht solche Probleme habe (noch nicht). Allerdings fände ich es schade, den ersten einfach aufzugeben, da mir einige Charaktere doch sehr ans Herz gewachsen sind und es harte Arbeit war, ihn zu schreiben.

Vielen Dank für das Lob an die Tempest-Mannschaft – das hören wir nicht nur gerne, es motiviert uns auch, uns weiterhin (ehrenamtlich) zu engagieren.

Außerdem freue ich mich darüber, dass mal jemand nachdenkt, ob es seine / ihre Frage schon gegeben haben könnte. Bei vielen ist das nämlich so, bei deiner aber nicht.

So etwas wie einen Ideenklau gibt es m. E. nicht, es sei denn, jemand setzt sich bewusst an ein Plagiat. Das heißt, er / sie nimmt einen Roman, eine Erzählung etc. und kupfert eins zu eins oder mit nur unwesentlichen Änderungen ab. Das ist strafbar, zumindest zivilrechtlich. Und es ist selbstzerstörerisch, denn ein Abschreiber ist niemals ein wirklicher Erzähler.

Etwas anderes ist es, Ideen anderer Autoren zu verwenden. Leider ist der Übergang zwischen eigener Ausgestaltung einer fremden Idee und Plagiat fließend.

Zum einen gibt es Ideen, die schon so alt sind, dass man gar nicht mehr weiß, von wem sie eigentlich ursprünglich stammen. Beispiel: Stoffideen wie „Junge liebt Mädchen" (oder umgekehrt), darf das aber nicht, weil die Familien verfeindet sind. Schon vor Romeo und Julia und lange danach wurde dieser Stoff verarbeitet.

Zum Zweiten gibt es Ideen, die ähnliche Geschichten nach sich ziehen. Beispiel: "Sakrileg" von Dan Brown, der mit seinen Büchern eine Menge Storys mit Verschwörungstheorien und Spekulationen über kirchliche Traditionen und Glaubenssätze ausgelöst hat. Es sind jedoch alles eigenständige Romane. Das nennt man: Trend. Ob man als Autorin unbedingt auf einen Trend draufsatteln sollte, bleibt jeder selbst überlassen. (Ich lese lieber Geschichten, die sich nicht an Trends anlehnen.)

Zum Dritten gibt es Ideen, die einfach „in der Luft liegen" und von mehreren Autoren (fast) gleichzeitig aufgegriffen werden. Das passiert sogar beim Sachbuch. Beispiel: Tony Buzans "Kopftraining" und Gabriele L. Ricos "Garantiert schreiben lernen", beide Anfang der achtziger Jahre erschienen – Buzan beschäftigt sich mit Mindmapping, Rico mit Clustering, beides Methoden, um das lineare Denken und Schreiben zu durchbrechen.

Zum Vierten gibt es Ideen, die beim Lesen haften bleiben, manchmal unterbewusst. Viel, viel später fließen diese Ideen (oft in bearbeiteter, interpretierter Form) ins eigene Schreiben ein. Wir schreiben nicht in einem „leeren Raum" – alles, was andere vor uns geschrieben haben und was wir lernen, aufnehmen, lesen oder sonst wie erfahren, beeinflusst uns.

Fünftens gibt es Ideen, die ganz bewusst auf anderen Werken aufbauen, damit spielen und dennoch zu etwas ganz Eigenem führen. Beispiel: Terry Pratchetts "MacBest" – eindeutig auf Shakespeares Macbeth bezogen und ohne diesen Bezug nur halb so komisch.

Warum zähle ich das alles auf? Weil es dir klar machen soll, dass du nicht vermeiden kannst, bereits Dagewesenes aufzunehmen. Die Frage ist, wie bewusst du das tust und wie viel Eigenständiges du daraus machst.

Wenn wir beide deine Idee nähmen (Mädchen wird in Computerspiel gezogen, muss dort Abenteuer bestehen und ihren Rückweg finden) und würden dazu einen Roman schreiben, kämen zwei sehr verschiedenartige Romane dabei heraus. Selbst, wenn wir beide uns auf dasselbe Setting, dieselben Charaktere und sogar den gleichen Handlungsaufbau einigen würden, ergäbe das immer noch zwei ganz unterschiedliche Geschichten. Weil wir beide individuell erzählen (keine zwei Leute erzählen ein und denselben Witz gleich). Weil wir beide individuelle Erfahrungen zugrunde legen (niemand erlebt dasselbe wie ein anderer, selbst nicht in denselben Situationen, denn die Wahrnehmung ist nun mal sehr persönlich). Weil wir unterschiedlich mit Sprache umgehen (man ist primärsinn-orientiert, ich z. B. visuell: Siehst du? Man hat verschiedenes Vokabular: Feudel – Scheuertuch – Wischlappen. Und ich hab ein wenig mehr Erfahrung als du im Umgang mit Sprache ;-)). All das und ein paar weitere Komponenten ergäben trotz gleicher Vorgaben zwei völlig eigenständige Geschichten.

Ich persönlich freue mich, wenn jemand meine Ideen aufnimmt, etwas Eigenes daraus macht und mir das zu lesen gibt. Immerhin heißt das, ich habe mit meinem Text jemanden erreicht, nicht losgelassen und sogar so weit getrieben, dass er sich hinsetzt und einen eigenen Text schreibt. Noch mehr freue ich mich, wenn jemand mir schreibt: Du, sein Text hat bei mir einen Gedankensturm ausgelöst, jetzt möchte ich eine eigene Story dazu schreiben, darf ich seine Idee zugrunde legen?

Deine eigentliche Frage jedoch war: Verärgert den Leser eine Geschichte, die sich hinterher als Traum herausstellt? Deutliche Antwort: Ja. Und zu Recht!

Autor und Leser gehen eine Übereinkunft ein. Der Autor verspricht, eine unterhaltsame, spannende, in sich wahre Geschichte zu erzählen. Der Leser verspricht, sich darauf einzulassen. Dreht mir der Autor danach eine Nase: Ätsch, es war alles gar nicht echt, nicht mal innerhalb dieser Story!, dann fühle ich mich veralbert. Etwas anderes ist es, wenn dem Leser von Anfang an Hinweise, Andeutungen, Ahnungen, versteckte Zeichen etc. gegeben werden, dass das Ganze ein Traum sein könnte. Dann hat er die Chance, es als Traum oder „echte" Geschichte zu lesen. Und fühlt sich nicht hintergangen.

Aber mal ehrlich: Was bringt dir diese zusätzliche Ebene? Du hast die Außenwelt der Heldin (fiktive Realwelt), dann eine Traumwelt (zweite fiktive Ebene) und darin wiederum das Computerspiel (dritte fiktive Ebene). Solch eine Schachtelung bringt nur etwas, wenn der Inhalt etwas damit zu tun hat. Beispiel: Heldin muss sich vom Computerspiel in den Traum zurückkämpfen und vom Traum in ihre Realität, kann dann aber nicht sicher sein, ob es tatsächlich Realität ist (SF-Konzept von "Die Welt am Draht"). So eine Story würde mit den Wahrnehmungen der Heldin spielen, die sich fragt, was noch real ist, und mit der des Lesers, der sich fragt, ob er ebenfalls eine Ebene in der Story ist, während er sie liest (Beispiel: Walter Moers "Die Stadt der Träumenden Bücher", Cornelia Funke "Tintentod").

Von einem solchen Konzept möchte ich dir (vorerst) abraten. Es ist sehr kompliziert zu planen und zu schreiben, denn die Durchdringungen, Ebenen und Wechsel müssen klargestellt werden. In keiner Sekunde darf die Autorin sich da vertun oder selbst Teil des (fiktiven?) Spiels werden.

Mein Rat ist: Leg den ersten Roman zur Seite, zumal du ja schon am zweiten arbeitest. Gönn dir und ihm eine Pause! Hol ihn wieder hervor, wenn du mit dem zweiten und dem dritten fertig bist. Dann hast du dich im Schreiben weiterentwickelt, kannst den Haken mit ganz anderen Augen sehen und vielleicht eine ganz eigenständige Lösung erarbeiten.

Das bedeutet ja nicht, dass du den ersten Roman aufgibst! Die ersten Romane sind immer Lehrstücke, aus denen sich jedoch nach einiger Zeit und viel, viel Lernen manchmal noch etwas machen lässt.

Übrigens: Geh nicht so abwertend mit mütterlichem Stolz um! Sei froh, dass du ihn gezeigt bekommst! Es gibt viel zu viele Eltern, die mit den literarischen Produkten ihrer Kinder nichts anfangen können oder – schlimmer noch – der Meinung sind, das sei alles Zeitverschwendung und Kinderkram, man solle doch gefälligst „was Anständiges" mit seiner Zeit anfangen. Wenn sie dich unterstützt und lobt, genieß das einfach, und freu dich!

Richtig ist allerdings, dass du von Verwandten, Freunden und Bekannten möglichst keine objektive Kritik erwartest. Die bekommt man besser von Leuten, die handwerklich mit den Texten arbeiten und nicht weiterhin deine Lieblingstante bleiben wollen.

beantwortet von: Stefanie Bense (10-3)

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