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Ist es akzeptabel, wenn ich mit der Zeit in meinem historischen Roman etwas mogle?

Ich arbeite an einem historischen Roman, dessen Anfang und Ende von historischen Ereignissen bestimmt werden. Das auslösende Ereignis ist ein politisch relativ bedeutendes, das Ereignis zum Schluss ein kleines, das aber nicht ohne Folgen in einem bestimmten kulturellen Bereich blieb und mich intensiv inspiriert hat. Dazwischen liegen vierzig Jahre - eine Zeitspanne, die für die Entwicklung meines Protagonisten und auch für die Handlung des Romans zu lang ist. Ich habe nun den Beginn bereits in einen Prolog gepackt, diesen etwa fünfzehn Jahre vor dem ersten Kapitel angesiedelt. Bleiben immer noch fünfundzwanzig Jahre. Zu viel.

Meine Frage nun: Ist es Ihrer Meinung nach akzeptabel, wenn ich hier etwas mogle, die Zeit sozusagen raffe? Abgesehen von Anfang und Ende kommen keine historisch relevanten Ereignisse vor, und ich plane, auch gar keine Jahreszahlen zu erwähnen, außer in einem Nachwort. Dem Lesefluss würde das m. E. nichts anhaben, aber wer sich die Mühe macht, nachzurechnen, und das Alter des Protgonisten vergleicht, wird den Schummel bemerken. - Was halten Sie davon?

Sie stellen eine gute Frage; wenn ich antworte, bedenken Sie bitte, dass es sich allein um meine persönliche Auffassung handelt - Sie haben alles Recht der Welt, die Dinge anders zu sehen.

Immer wieder höre ich von meinen Lesern, dass sie historische Romane deshalb verschlingen, weil sie zwar gut unterhalten werden, gleichzeitig dabei aber auch etwas über die Vergangenheit lernen. Auf den etwa 30 Lesungen, die ich bisher gehalten habe, kam ohne Ausnahme die Frage aus dem Publikum: Wie viel in Ihrem Roman ist historisch belegt, und wie viel haben Sie sich ausgedacht? Das beschäftigt die Leser. Sie wollen glauben, das Erzählte habe sich tatsächlich so zugetragen, und wenn nicht vollständig, so doch zumindest in Teilen.

Überlegen Sie sich gut, ob Sie ein historisches Ereignis verschieben. Das historische Ereignis ist eines der Kaufargumente, es ist einer der Gründe, weshalb die Leser Ihren Roman überhaupt zur Hand genommen haben. Sie wünschen sich die Illusion, Sie, die Autorin, seien mit einer Zeitreisemaschine beim Geschehen dabei gewesen und würden "authentisch" berichten. Natürlich wissen die Leser, dass vieles ausgedacht ist, aber sie versuchen, das zu vergessen, sie wollen Kind sein, wollen sich Ihnen bedingungslos ausliefern und Ihnen glauben. Enttäuschen Sie sie nicht. In kleinen Dingen dürfen, in kleinen Dingen müssen Sie erfinden. Bei den großen Dingen wäre ich an Ihrer Stelle vorsichtig, denn auf dieser Säule ruht die Illusion vom historischen Roman.

Nicht jeder sieht das wie ich. Tanja Kinkel beispielsweise versetzt sehr wohl historische Ereignisse, um den Plot zu straffen - allerdings bekennt sie es im Nachwort ihren Lesern. Vielleicht wäre das ein Weg für Sie, wenn Sie keine andere Lösung finden.

beantwortet von:Titus Müller (6-03)

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