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Gibt es einen Mittelweg zwischen historisch korrekt und lesefreundlich?

Zurzeit arbeite ich an einem (Kriminal-)Roman, der in der Zeit Kaiser Augustus’ spielt. Was mich bei einigen anderen Romanen des Genres störte, waren die häufig schlecht recherchierten Zeitumstände. Mein Anspruch war, keine historisch unkorrekte Ereignisse, Sachverhalte, Gegenstände usw. zu verwenden [...].

Bald schon gelangte ich an eine Grenze, als ich feststellte, dass verwendete Längenmaße beispielsweise heute nicht mehr nachvollzogen werden können. Das Gleiche gilt auch für Zeitangaben, Arbeitskompetenzen der verschiedenen Verwaltungseinheiten (Quästor, Konsul, Prokonsul, Legat usw.) und vieles mehr.

Fußnoten einzufügen zum besseren Verständnis oder etwa ein Glossar schien mir den Kriminalroman zu sehr in Richtung geschichtliche Dokumentation zu lenken. Gebe ich dem Leser keine Erklärungen, so leidet das Verständnis der Geschichte.

Sicherlich kann man einige Probleme umgehen (1,5 m werden zu zwei Schritt, 30 km zu einem Tagesritt, 6:00 Uhr morgens wird zu "nach Tagesanbruch") dennoch reicht dies nicht aus. Von daher möchte ich Sie mit Ihrer Sachkenntnis um Rat fragen, welchen Mittelweg in diesem womöglich speziellen Fall ich einschlagen könnte.

Vielen Dank für deine Mail. Man merkt, du hast dich gut hineingedacht in die Materie. Zu deinem Problem gibt es drei Lösungen, und eine davon hat so ziemlich alle Vorzüge für sich.


1) Du vermeidest es, Details im Roman zu verwenden, die heute schwer zu verstehen sind. Das macht deinen Roman leicht lesbar, eingängig und vergnüglich. Allerdings fällt der Vorzug weg, der die meisten Leser dazu bewegt, gerade einen historischen Roman zu lesen: Sie wollen etwas dazulernen über den Alltag, die Gedanken der Menschen und das Geschehen zu einer anderen Zeit. Wie sollen sie Neues lernen, wenn du vermeidest, sie mit dem Unbekannten zu konfrontieren? Irgendwann werden sie über deinem Buch die Stirn runzeln und sagen: Das kommt mir so gar nicht wie die römische Antike vor.

2) Du denkst dich in einen Menschen der damaligen Zeit hinein und beschreibst die Dinge korrekt aus seiner Sicht. Historiker werden dich bewundern, und du selbst, der du dich eingehend mit der Materie befasst hast, wirst sehr zufrieden sein. Schade ist nur, dass sich im Kopf der Leser nicht das Bild aufbaut, das du und die Historiker sehen. Die Leser werden stolpern, bestenfalls werden sie Passagen oder Details "überlesen", und das Denken und Erleben eines Menschen aus der Antike wird ihnen verschlossen bleiben.

3) Zwar beschreibst du den antiken Menschen mit seinem Denken, ohne auf historische Details zu verzichten, aber du sorgst dabei dafür, dass der moderne Leser Erklärungen erhält. So wird er verstehen und dazulernen zugleich. Wie man das macht?

Es könnten Fremde auftreten, Reisende, die mit den politischen Strukturen und den Gegebenheiten nicht vertraut sind. Der Protagonist ist genervt, er lästert über ihre Unwissenheit - und dann belehrt er sie herablassend. Ähnlich funktionieren Kinder, die (zufälligerweise) die richtigen Fragen stellen. Du kannst Erklärungen einflechten, wenn der Protagonist selbst über etwas nachdenkt. Er hat Phantasie, er entwickelt Utopien, und nebenbei erläutert er die bestehenden Verhältnisse, zum Beispiel so: "Wenn er, Flavius, der Kaiser wäre, er würde diesen Konsuln schon zeigen, wo es lang ging. Wie sie schlemmten! Wie sie Intrigen sponnen und dabei freundlich lächelten! Was eigentlich ihre Aufgabe war, lag brach: Die Straßen verfielen, Schmuggel und Aufruhr gediehen, Krankheiten verbreiteten sich, und dabei sollten die Konsuln ..." (Antike Geschichte ist nicht meine Stärke. Du wirst wissen, was die Konsuln alles sollten.)

Oft genügt es, in einem kurzen Einschub zu erklären, um was es sich handelt. Nehmen wir an, jeder in der Stadt weiß, dass das Westtor hauptsächlich von Viehtreibern genutzt wird. Wie erfährt es der Leser? Etwa so: "Vor ihnen lag das Westtor. Flavius drückte den Handrücken gegen die Nase. Dieser Gestank! Überall lag Kot auf der Straße. Die Viehtreiber, denen dieses Tor bestimmt war, kümmerten sich nicht darum. Niemand kümmerte sich darum."

Du sprichst Maße und Münzen an. Auch hier lässt sich vieles durch einen kurzen Einschub erhellen: "Neun Klafter maß der Riss im Boden, man hätte einen ganzen Baum hineinversenken können." "Zwei Pence und einen Halfpenny sollte der Krug kosten, das Doppelte von dem, was er als Tagelöhner früher verdient hatte." Wir denken oft in Vergleichen, warum sollte deinem Protagonisten nicht zuerst ein Maß und dann sein Vergleich durch den Kopf gehen?

beantwortet von:Titus Müller (6-04)

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