Nur wenig ist Außenstehenden bekannt über "das Geschäft mit dem Buch", geschweige denn über den Weg, den ein Manuskript vom Autor bis zum Leser durch den abenteuerlichen Dschungel der Literatur-Großindustrie zurücklegen muss. Das im Heyne-Verlag erschienene Buch "Wie finde ich den richtigen Verlag" von Kristiane Allert-Wybranietz bietet hier etliche Tipps für Autoren und solche, die es werden wollen, und dabei spart die Autorin nicht mit eigenen Erfahrungen und guten Ratschlägen.
Ich möchte einmal ein Buch empfehlen, das nicht in die Kategorie "Besser schreiben" gehört. "Bauformen des Erzählens" von Eberhard Lämmert ist ein Standardwerk der Literaturwissenschaft (und bereits 1955 erschienen); trotzdem oder vielmehr gerade deshalb hat mir dieses Buch beim Schreiben schon mehr geholfen als so manches Buch der Ratgeber-Klasse.
Einer der Hauptgründe dafür ist sicher, dass Lämmert so herzerfrischend wenig Regeln aufstellt. Ratgeber gehen immer - offen oder verdeckt - von einer Erzählform aus, die sie für ideal und nachahmenswert halten. Lämmert dagegen breitet die gesamte Palette möglicher Erzählformen vor einem aus - nach verständlichen Kriterien ordentlich sortiert - und lädt einen dazu ein, souverän diejenige auszuwählen, die für die jeweilige Schreibsituation am besten geeignet ist. Normierungsversuche lehnt er ausdrücklich ab; er lässt sich nicht einmal auf die Frage ein, ob eine bestimmte Erzählweise vielleicht moderner ist als eine andere.
Das Ordnungsprinzip, nach dem er seinen Überblick über die Erzählformen strukturiert, ist die Zeit. Denn - so Lämmert - mit dem Problem der Zeit ist jeder Erzähler konfrontiert: Erstens schildern alle Erzählungen eine zeitliche Abfolge von Ereignissen, und zweitens findet auch das Erzählen selbst sukzessive, in einer bestimmten zeitlichen Abfolge statt. Es gibt also in jeder Erzählung, ob Kurzgeschichte oder Roman, auf der einen Seite die "erzählte Zeit" - die reine Ereigniskette, wie man sie z. B. in einer chronologisch geordneten Tabelle darstellen könnte - und auf der anderen Seite die "Erzählzeit", die Abfolge der Ereignisse, wie sie Satz für Satz und Seite für Seite dem Leser dargeboten wird.
Damit ist Lämmert tatsächlich sofort bei Fragen angelangt, mit denen sich jeder Autor auseinander setzen muss: Erzähle ich meine Geschichte chronologisch, oder stelle ich die Zeitfolge um? Besteht meine Geschichte aus einem Handlungsstrang oder aus mehreren? Welche Passagen will ich szenisch ausgestalten, welche kurz zusammenfassen? In dieser letzten Frage z. B. hat Lämmert mir zu einem ganz wichtigen Aha-Erlebnis verholfen:
Ratgeber befassen sich (wohl zu Recht) in erster Linie damit, wie man Szenen möglichst lebendig gestaltet, und rümpfen über Sätze wie "XY war wütend" eher die Nase. Durch Lämmert habe ich begriffen, dass solche zusammenfassenden Sätze an mancher Stelle auch das einzig Richtige sein können.
Natürlich liest sich Lämmerts Buch streckenweise ein wenig abstrakt - schließlich ging es dem Autor eigentlich darum, etwas begriffliche Ordnung in das Gebiet "Poetik des Erzählens" zu bringen, nicht darum, Schriftstellern beim Konstruieren ihrer Geschichten zu helfen. Einige wenige Passagen setzen deshalb auch Kenntnisse voraus, die Nicht-Germanisten selten besitzen dürften. Dass man alle Beispieltexte kennt, wird dagegen nicht erwartet; Lämmert liefert immer eine kurze Zusammenfassung des Inhalts mit. Und die abstrakte Form der Abhandlung habe ich persönlich eher als Vorteil empfunden, denn sie regt zum Nachdenken an. Lämmert bringt nicht nur Licht in so knifflige Fragen wie die der Erzählperspektive und der Erzähldistanz, er bietet vor allem ein theoretisches Bezugssystem für die eigenen Erfahrungen mit dem Schreiben.
Eberhard Lämmert: Bauformen des Erählens, 8., unveränderte Auflage 1999, 300 Seiten, 34 DM, Verlag J. B. Metzler, ISBN 3-476-00097-4.