Das Wesentliche in der Romanliteratur liegt nicht im Satz oder im Abschnitt. Das Wesentliche eines Romans liegt in jeder einzelnen Szene.
Jede Szene hat einen verbalen und einen nonverbalen Inhalt. Der verbale Inhalt mag ein junger Mann sein, der ein Mädchen leidenschaftlich umwirbt, oder der Präsident der USA, der entscheidet, ob ein nuklearer Angriff gegen ein Forschungszentrum für biologische Kriegsführung gestartet werden soll. Der nonverbale Inhalt zeigt sich in der Art, wie Du diese Szene präsentierst: Du magst Deinen Leser glauben machen, der junge Mann sei rührend unbeholfen oder unglaublich ungehobelt, oder der Präsident der USA sei ein oberflächlicher Narr oder ein hochsensibler Mensch, der sich einer schrecklichen Entscheidung gegenübersieht.
Tatsächlich bist Du wie ein Rechtsanwalt, der den Geschworenen einen Fall präsentiert: Du stellst die Beweismittel bereit und die Geschworenen liefern das Urteil. Wenn Du uns erzählst, daß der junge Mann rührend unbeholfen ist, mag es sein, daß wir Dir nicht glauben. Wenn Du uns aber sein ungeschicktes Verhalten zeigst, und wir ausrufen: "Himmel, der arme Kerl!", dann hat Deine Szene Ausdruckskraft und Erfolg.
Jede Szene präsentiert ein bestimmtes Problem für einen oder mehrere Charaktere und zeigt uns, wie die einzelne Figur damit umgeht. Das wiederum verrät uns einiges über die Charaktere und treibt die gesamte Story voran.
Hier ein Beispiel, daß ich für meine Studenten recht nützlich fand. Ich gab ihnen etwa 30 Minuten Zeit, um mit den folgenden Elementen eine Szene zu entwerfen, die diese Elemente dramatisierten und zu einer entscheidenden Lösung führten:
- Ein Taxi und ein öffentliches Verkehrsmittel stoßen zusammen, so daß der gesamte Verkehr der Innenstadt lahmgelegt wird.
- Donald Benson, ein 35-jähriger Geschäftsmann: Chauvinist, aggressive Persönlichkeit mit geschäftlichen Problemen.
- Helene Williams, seine 22-jährige Sekretärin: unsicher in ihrem neuen Job, gewinnt leicht Freunde, kennt die Stadt gut.
- Die dringende Notwendigkeit, Donald zu einem Hotel außerhalb des Flughafengeländes zu bringen, um dort eine entscheidende Präsentation für einen potentiellen Investor aus Los Angeles zu machen. Der Investor wird die Stadt in vier Stunden verlassen.
Gib Dir selbst eine halbe Stunde, um solch eine Szene zu schreiben, so daß der Leser sie am Ende mit all diesen Informationen lesen wird. Ich prophezeie Dir, Du wirst erstaunt sein, wie schnell Du eine solche Szene entwickeln kannst, und wie sie ganz logisch zu einer weiteren Szene führt. Der Schlüssel von allem liegt darin, zu wissen, was Du Deinem Leser über Deine Personen und ihre Probleme zeigen willst. Auf einmal wirst Du wissen, daß alles weitere automatisch folgt.
Betrachte jetzt Deine eigene Story. Schau´ Dir an, was in ihr vorgeht. Was soll Dein Leser über Deine Heldin denken? Daß sie schüchtern ist, aber bestimmt? Daß sie denkt, kein Mann könnte sie je lieben? Daß sie scharfsinnig in Hinsicht auf andere Frauen ist, aber verwirrt bei Männern? Was auch immer diese Wesenszüge sein mögen, Du solltest immer imstande sein, logisch plausible Ereignisse zu finden, die diese Wesenszüge offenbaren.
In einigen Fällen wird Dir Dein Handlungsablauf automatisch einige Szenen liefern. Wenn Deine Heldin gerade von New York nach Frankfurt fliegt, könnte es sein, daß ihr Sitznachbar ein attraktiver Mann ist, der sie fleißig ignoriert. Es könnte auch sein, daß der deutsche Zollbeamte ihr das Leben schwer macht, sie aber auf ihre Rechte besteht. Mag auch sein, daß unsere Heldin sieht, wie der attraktive Mann von einer Frau begrüßt wird, in die er vernarrt ist, obwohl unsere scharfsinnige Heldin sehen kann, daß diese Frau ihn verachtet. Und so weiter.
Wie lange sollte eine Szene sein?
Lange genug, um ihren Standpunkt klar zu machen! Eine Szene mag gerade mal ein oder zwei Sätze umfassen oder gar 20 Seiten lang sein. Wenn sie endet, sollten wir mehr über die betroffenen Charaktere wissen, und Ihre Probleme sollten gewachsen sein. Das bedeutet jetzt nicht sich endlos steigernde Düsterkeit und Verzweiflung, aber es bedeutet, daß nur ein Erfolg den Weg für eine noch aufreibendere Szene bereitet. Der Held mag die Terroristen-Bombe im Parkhaus entschärfen, aber die darauf folgende Publicity wird ihn zu einem bekannten Mann machen. Und nun werden die Terroristen versuchen ihn oder seine Familie zu töten.
Wie viele Charaktere sollten in einer Szene sein?
So viele wie möglich. Bei einer Debatte im Kongreß soll deshalb aber nicht auch noch der letzte Abgeordnete dargestellt werden.
Hier ein Tip in diesem Zusammenhang: Wenn Deine Handlung eine ziemlich große Besetzung erfordert (zum Beispiel ist Dein Protagonist der Kommandierende Offizier eines Infanterie-Regimentes oder der Direktor einer Mädchenschule), dann führe nicht gleich auf einmal einen ganzen Troß von Charakteren ein. Zeige Deine Hauptfigur zuerst, und zwar in einer Szene, die ihre Charaktereigenschaften demonstriert (Courage, Führernatur, Selbsthaß was auch immer). Dann führe jede der anderen tragenden Figuren ein, in einer Szene, die auch ihre Charakterzüge erkennen läßt, während Du gleichzeitig unser Verständnis für die Hauptfigur vertiefst und die Handlung vorantreibst.
Auf diese Weise machen wir die Story interessant, indem wir Interesse an den verschiedenen und komplexen Personen wecken. Tolkien verfuhr genauso in seinem "Herr der Ringe" und Kurosawa tat es so in seinen "Sieben Samurai".