15. Selbstgefälliges Abschweifen
Gerade weil Du an etwas Bestimmtem besonders interessiert bist, heißt
das noch lange nicht, daß es auch in die Story gehört. Einer
meiner Studenten würgte jede seiner Stories ab mit einer absolut
nicht zur Sache gehörigen Hetze gegen die Regierung, die Psychotiker
dazu mißbraucht, stimmungsverändernde Drogen zu nehmen. Ich
sagte ihm, wenn er dermaßen interessiert an diesem Thema sei, solle
er eine eigenständige Story daraus machen und dieses Thema erst einmal
ganz aus seinen Gedanken herausnehmen. Die Ideen und Gedanken, die er
dabei entwickle, könne er dann später in seinen anderen guten
Stories an ganz anderen Stellen verwenden. Und vielleicht helfe ihm diese
Art der Selbstmedikation, sein storytechnisches Problem diesbezüglich
in den Griff zu bekommen.
Gerade wenn Du sechs Monate damit verbracht hast, Bonsais zu studieren,
heißt das nicht, daß Du fünf Seiten übers Baumschrumpfen
in Deine Japan-Saga einbauen sollst. Verliere Dich nicht auf 23 Seiten
mit storytechnischen Belanglosigkeiten, nur weil Du sie interessant findest.
Wenn es die Story nicht vorantreibt, wenn es einfach nicht in diesem Umfang
in die Story hineingehört, laß es draußen!
16. Der Irrtum, der kein Irrtum ist
Ich weiß nicht mehr, wie oft ein Student mir schon erklärt
hat, warum etwas, das keinen Sinn macht, doch einen Sinn macht, wenn ich
nur erst einmal die Informationen auf Seite 74 zum Thema XYZ gelesen hätte,
oder wenn ich zumindest (wie der Autor) ein Experte für "hycogemische
Enzyme" wäre. Ob die Informationen des Autors jetzt richtig
sind oder nicht, spielt hierbei gar keine Rolle. Denn die Frage ist, ob
die Informationen sich an dieser Stelle im Roman richtig anfühlen
oder falsch. Ein scheinbarer Fehler ist ein Fehler, weil er nämlich
auf den Leser exakt den gleichen Effekt hat wie ein wirklicher Fehler.
Genau solch ein Fehler läßt den Leser sein Vertrauen in die
Story verlieren, verwirrt ihn und macht ihn ärgerlich, und nicht
zuletzt zerstört er auch die Bereitwilligkeit des Lesers, sich von
der Spannung der Story mitreißen zu lassen ("suspension of
disbelief"). Auf diese Art "falsch zu schreiben", die Story
also mit einem Zuviel an Informationen zu überladen, hat eben genau
diesen unerwünschten Nebeneffekt auf den Leser.
Aber wenn wir schon einmal bei dem Thema der Überdosierung von Nachforschungen
in einer Story sind, sollte ich auch erwähnen, daß es ebenso
schlecht ist, fehlerhaft nachzuforschen, beziehungsweise es nicht gewissenhaft
genug zu tun. Setze ruhig voraus, daß Deine Leser über ein
gewisses Maß an Wissen verfügen, und daß einige von ihnen
sehr wohl sehen werden, wo Du fehlerhaft recherchiert oder gearbeitet
hast.
Hier nur ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung: Science
Fiction- und Fantasy-Autoren scheinen eine Menge Stories zu schreiben,
die mit Höhlen zu tun haben. Da ich gerne in Höhlen gehe und
die meisten dieser Stories jedes verdammte Detail falsch wiedergeben,
nervt mich das wirklich. Höhlen in der Fantasy scheinen alle luftig
zu sein, gut beleuchtete Orte voller perfekter marmorner Treppenhäuser
und Adern von purem Gold (welche generell nicht in Kalkstein gefunden
werden, wo sich für gewöhnlich Höhlen bilden). Wenn mich
eine Story in eine Höhle wie diese führt, frage ich mich jedesmal:
Wo ist der Schlamm? Wo ist die Dunkelheit? Wo ist die feuchtkalte und
dünne Luft? Wo sind die losen Steine auf dem Boden, über die
man stolpern kann, der verwitterte Geruch und die Fledermäuse? Selbst
wenn der Autor seine unrealistische Darstellung gut rübergebracht
hat, ist es für die Glaubwürdigkeit der Story zu spät.
Wie dem auch sei, irgendwann bin ich zu der Einstellung gelangt, daß
es einem Autor andererseits nicht guttut, fünftausend Seiten Informationen
über die Prinzipien der natürlichen Höhlenformationen in
glühendem, erzführendem und metaphorischem Fels zu haben. Ein
Zuviel ist ebenso fatal wie ein Zuwenig.
Ich versuche mir stets vor Augen zu halten, daß jemand mit mehr
Wissen meine Stories lesen könnte. Wenn ein Detail meiner Story mit
begründetem Fachwissen kollidiert, werde ich versuchen, meine Variante
in ein oder zwei Sätzen zu erklären, oder zumindest die Existenz
eines allgemein zulässigen Wissens einräumen. Das läßt
den Leser letztendlich wissen, daß ich allgemein bekanntes Wissen
berücksichtigt habe. Es beruhigt den Leser, bewahrt ihn davor durch
meine Fehler irritiert zu werden, und verhindert schließlich, daß
ihn die Story verwirrt. Kurzum: ich recherchiere ein wenig, und versuche
beide Fehler zu vermeiden, ein Zuviel ebenso wie ein Zuwenig.
17. Schreiben, um zu beeindrucken anstatt zu kommunizieren
Ich bin überzeugt, daß dies zu einem großen Teil auf
das Schreiben in Schule, Verwaltung und Wirtschaft zurückzuführen
ist. Wir glauben, immer und immer wieder, unsere Vorgesetzten oder unsere
Leser mit unserem Wissen und Wortschatz beeindrucken zu müssen, wie
bedeutend wir doch einen Gegenstand erscheinen lassen können. Geht
die Bedeutung selbst in solch einem Orkan von Kauderwelsch verloren, umso
besser. Wenige Leute haben jedoch den Nerv zuzugeben, daß sie nicht
wissen, was der Autor überhaupt meint, und wenn der Autor dann auch
noch selbst unsicher ist, kann so ein bißchen bürokratische
Verschwommenheit gut verbergen, was er nicht weiß.
Unweigerlich geht jedoch etwas verloren, wenn die Dinge zu pompös
dargestellt werden. "Zähle niemals Deine gefiederte Nachkommenschaft,
bevor die Inkubationszeit vollendet ist" trifft es nicht ganz so
wie "Zähle Deine Hühner nicht bevor sie ausgebrütet
sind". Mach Deine Arbeit auf gar keinen Fall schlecht, ganz gleich
unter welchen Umständen; warum solltest Du Dich freiwillig umständlich
ausdrücken?
Hier eine gute Faustregel: Gebrauche die kürzesten Wörter und
die einfachsten Satzstrukturen, um den Inhalt, den Du ausdrücken
willst, darzustellen. Und eine Randbemerkung: In diesen dunklen Tagen
stecken wir tief im Dschungel des politisch korrekten Wortgeklingels.
Ignoriere den Trend. Sage, was Du meinst, und nicht etwas, von dem Du
denkst, jemand könnte glauben, daß Du das gemeint hast. Es
gibt Zeiten, in denen Du jemandem auf die Füße treten möchtest.
Obwohl es nicht viel darüber zu sagen gibt, wenn es um das unnötige
Verletzen von Menschen geht, so ist die Idiotie der "Political Correctness"
doch komplett aus dem Ruder gelaufen. Mein Lieblingsbeispiel für
diesen Unsinn ist folgender Ausdruck: "vorübergehend körperlich
leistungsfähig", bezeichnet all jene Leute, die unfairerweise
gerade keine Behinderung haben. Dieser Ausdruck wurde in schrecklicher
Ernsthaftigkeit gebraucht. Nett, nicht wahr?!
18. Experimentelles Schreiben
Jemand, der dies alles liest, könnte leicht denken: "Ha! Mr.
Ich-weiß-alles sagt, man soll all diesen Regeln folgen. Ich werde
eine Story im zweiten Futur und in der zweiten Person schreiben, in der
alle Personen namenlos und alle Spezies nicht festgelegt sind. Die Handlung
wird sich gänzlich aus sich ineinanderfügenden Rückblenden
zusammensetzen, ich werde das ganze Ding so weit treiben wie ich will,
und ich werde alles hineinpacken, was ich will, egal ob es der Story etwas
bringt oder nicht."
Einmal warf ich den Begriff der "flying pigs" während einer
meiner Unterrichtsstunden ein, wobei ich bewußt mit total absurden
Handlungselementen operierte. Als ob die Schüler mir zeigen wollten,
daß es trotzdem funktionieren kann, kam die Hälfte der Studenten
mit "Flying-Pig-Stories" zurück. Einige davon waren sogar
nicht einmal übel. Mit einer Ausnahme konnte jedoch jede einzelne
Story durch das Entfernen des "Flying-Pig-Elements" entschieden
verbessert werden. Aber es ist schon ein verdammt lausiger Grund, eine
Story zu schreiben, nur um das zu zeigen. Wir Leser sind nicht daran interessiert,
zu sehen, wie schlau du bist, Autor. Wir wollen einfach nur eine gute
Geschichte lesen.
Noch eine Erfahrung: Eine Weile darauf kam ich mit einer Freundin aus
dem Theater und sagte zu ihr: "Das war kein experimentelles Theater
... es war gut, und es hat funktioniert."
Im Theater, wie beim Romanschreiben, haben wir den Mythos des noblen Scheiterns
von Künstlern entwickelt. Künstler mühen sich endlos ab
und produzieren eine Arbeit so dicht, so kultiviert, so brillant, daß
kein Mensch mehr versteht, worum es überhaupt geht, und dadurch wird
diese Arbeit dann - sehr zum Erstaunen der Künstler - von der Kritik
gemieden und erst recht von der Öffentlichkeit. Der Künstler
weiß natürlich, daß seine Arbeit brillant ist. Alle anderen
sind jedoch arme Narren.
Sehr selten ist dieser Mythos des Noblen Scheiterns nämlich wahr.
Es ist weit besser für einen Künstler und Autor ein Zuviel an
technischen Unzulänglichkeiten, Selbstzurschaustellungen und unzusammenhängendem
Gefasel zu vermeiden. Was bringt es, am Ende nur das Versagen der eigenen
Arbeit, versteckt hinter diesem Mythos, hinnehmen zu müssen.
Schlecht zu schreiben, läßt einen Autor dumm dastehen. Bist
Du aber der unverstandene Künstler, dann ist das so cool, wie eine
Basballkappe verkehrt herum zu tragen.
Schlusswort
Keine der Regeln, Ideen und Theorien, die ich in diesem Essay anbiete,
ist eigenmächtig und willkürlich gewählt. Es gibt gute
Gründe für jede einzelne Regel, Idee und Theorie. Alle basieren
auf meiner eigenen Erfahrung von viel zu vielen unveröffentlichten
Manuskripten. Auf der einen Seite ist keine dieser Regeln universell,
und ich habe zugegebenermaßen die meisten selbst schon oft genug
gebrochen. Aber auf der anderen Seite bin ich, mehr als mir lieb ist,
immer wieder zurückgekehrt, um stellenweise Veränderungen an
meinen Stories vorzunehmen und diesen bewährten Regeln zu folgen.
Kurzum: Verliere dich nicht in experimentellen Formen und Stilen, bevor
du nicht die Basisregeln beherrschst.
Eine letzte Faustregel: Begreife die Regeln und du wirst wissen, wie und
warum du ihnen folgst, bevor du beschließt, die ein oder andere
zu brechen.