Es gibt sicher mehrere Methoden, sich seine Personen für eine Geschichte oder einen Roman auszudenken, aber eines haben alle Methoden gemeinsam: Die Charaktere müssen so stark sein, dass sie den Leser von Anfang an fesseln. Normalerweise hat man eine Idee, die Idee wird langsam zur Geschichte, die Geschichte eventuell sogar zum Roman. Sobald einem die Idee im Kopf herumschwirrt, hat man auch die Figuren dazu, erst sehr vage, doch mit jedem Schritt Richtung Geschichte werden auch die Personen immer konkreter.
Angenommen, Sie wollen eine Liebesgeschichte schreiben. Sie brauchen eine Frauen- und eine Männerfigur. Beide sind blond, blauäugig, intelligent, gut gebaut und sportlich, sind erfolgreich in ihrem Beruf als Investmentbroker und verdienen ausgesprochen gut, sind auf der Suche nach dem idealen Partner. Sie lernen sich kennen, verlieben sich, ziehen zusammen, heiraten und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Wirklich? Ich glaube nicht. Was im wirklichen Leben eventuell funktionieren kann, wird in der Fiktion ziemlich sicher ein Flop. Wo sollen bei diesen beiden Personen die Spannungen herkommen? Ach so, in einer Liebesgeschichte braucht man keine Spannung? Und was wollen Sie dann erzählen? Die Geschichte ist mit den paar Worten, die ich oben erwähnt habe, bestens erzählt. Alles, was sie macht, macht er auch. Alles, was sie denkt, denkt er auch. Wie öde und langweilig! Ich würde vermutlich keine zwei Seiten dieser so genannten Geschichte durchhalten. Eine gute Geschichte lebt von den Spannungen zwischen ihren Hauptdarstellern, deshalb müssen diese gut aufeinander abgestimmt werden.
Wie bereits zu Beginn erwähnt, gibt es mehrere Methoden, Figuren zu kreieren; ich möchte Ihnen heute die Version von James N. Frey vorstellen (siehe dazu auch den Bericht über ein Frey-Seminar. [nicht mehr verfügbar. Die Redaktion]). Ich möchte versuchen, zwei Figuren vor Ihren Augen zu entwickeln, und möchte Sie bitten, mir Schritt für Schritt zu folgen. Natürlich ist das etwas schwierig, wenn Sie meinen Gedankengang nicht immer nachvollziehen können, doch ich werde mich bemühen, alles so detailliert wie möglich aufzuschreiben.
Der erste Charakter
Bleiben wir doch bei unserer Liebesgeschichte, beginnen wir mit dem weiblichen Charakter. Hier ihre ersten Details:
- Ariadne Fromm, 27 Jahre, 175 cm
- blonde, lange, glatte Haare; blauäugig; schlanke Figur, ebenmäßiges Gesicht; sie könnte durchaus als Model arbeiten
Haben Sie schon ein Bild vor Augen? Vielleicht haben Sie mit dem Namen ein Problem, denn jeder von uns verknüpft mit einem Namen eine ganz bestimmte Vorstellung. Ändern Sie später ruhig den Namen, aber nicht die weiteren Details. Der Name muss für Sie zur Figur passen. Sie werden sehr schnell sehen, dass der Name Programm ist für einen Charakter.
Bisher ist Ariadne nur eine Hülle; unsere Aufgabe ist es jetzt, ihr Leben einzuhauchen. Sie braucht eine Biographie.
Ariadne ist die zweite Tochter einer Beamtenfamilie. Der Vater ist Lehrer für Latein und Griechisch am Humanistischen Gymnasium, die Mutter war Zeit ihres Lebens Hausfrau und Mutter. Ariadnes Schwester Helena ist drei Jahre älter und wurde, ganz dem Wunsch der Familie gemäß, ebenfalls Lehrerin. Ariadne ist sehr neidisch auf Helena, denn sie hat nicht so viele Probleme mit ihrem Namen. Ariadne wurde in der Schule immer gehänselt und fühlte sich ausgeschlossen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hat sie nur einen Wunsch: Raus aus dem kleinbürgerlichen Mief der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist. (Nur nebenbei bemerkt: Auch Helena hatte viele Probleme mit ihrem Namen. Angelehnt an Wilhelm Busch, wurde sie immer "Fromme Helene" genannt. Das weiß Ariadne aber nicht, die Schwestern haben nie darüber geredet.)
Wenden wir uns den Eltern zu. Der Vater war immer sehr streng mit den beiden Töchtern. Er hatte jedes Mal auf den Stammhalter gehofft, doch es wurden zwei Mädchen. Wir können ihn uns als den klassischen Humanisten vorstellen: immer den guten alten Zeiten hinterherjammernd, zur Askese neigend, zu jeder Gelegenheit lateinische und griechische Redensarten zitierend. Er zieht die Gesellschaft von Klassikern der seiner Familie vor. Die Urlaubsreisen gehen - logisch - nach Italien, Griechenland und Ägypten, der Geschichte und Ausgrabungsstätten wegen.
Die Mutter hat sich ihrem Mann immer untergeordnet. Sie stammt aus kleinen Verhältnissen, für sie war die Heirat ein Aufstieg ins Bürgertum. Sie leidet sehr unter dem manchmal jähzornigen Temperament ihres Mannes, hat aber im Laufe der Zeit gelernt, damit umzugehen. Sie liebt ihre Töchter, will sie vor dem gleichen Schicksal bewahren, wagt es jedoch nicht, gegen die Pläne ihres Mannes zu agieren.
Aha, Sie sagen: Was interessieren mich die Eltern von Ariadne, die kommen doch in der Geschichte gar nicht vor? Richtig. Aber wer hat denn unsere Hauptperson großgezogen und damit bestimmend beeinflusst? Weshalb will Ariadne denn unbedingt weg vom Kleinstadtmief, wenn nicht wegen ihrer Eltern? Merke: Nur eine Figur mit einer richtigen Biographie ist auch so interessant, dass die Leser dranbleiben. Und nichts weiter wollen wir doch, als unsere Leser zu unterhalten. Und noch ein Punkt zum Merken: Der Leser bekommt oft nur die Spitze dessen zu Gesicht, was Sie von Ihrer Figur wissen. Sie müssen sich das wie einen Eisberg vorstellen: Ein Sechzehntel schwimmt oberhalb (das taucht in der Geschichte auf), fünfzehn Sechzehntel sind unsichtbar, aber sehr wohl vorhanden.
Zurück zu Ariadne. Wir kennen nun ihre Herkunft, wissen, wie sie aussieht. Was wir noch nicht wissen, ist, was in ihr vorgeht. Doch, wir wissen, dass sie in die Großstadt will, weg von den Kreisen, in denen ihre Eltern verkehren. Und da ihr Vater sie und ihre Schwester immer ziemlich knapp mit Geld gehalten hat, will sie richtig viel Geld verdienen, um sich alles im Leben leisten zu können. Aber es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb sie das Geld will: Sie will nie wie ihre Mutter finanziell abhängig sein von einem Mann. Das ist ihre so genannte "Ruling Passion", der eine Gedanke, der ihr ganzes Leben bestimmt.
Zum Alltag vielleicht noch so viel: Sie arbeitet als Investmentbroker in Frankfurt, ist tagsüber ganz harte Geschäftsfrau; doch abends vertauscht sie das Kostüm mit greller Diskothekenkluft und zieht um die Häuser. Tanzen ist ihre heimliche Leidenschaft, und natürlich ist sie auch auf der Suche nach dem Mann fürs Leben. Das würde sie aber nie zugeben, vor allem nicht vor sich selbst.
Können Sie sich Ariadne Fromm jetzt vorstellen? Natürlich steht es Ihnen immer noch frei, ihren Namen zu ändern, doch dann müssten Sie auch Teile ihrer Biographie ändern. Versuchen Sie es ruhig. Sie werden sehen, dass sie eine vollkommen andere Person kreieren.
Der zweite Charakter
Zu einer Liebesgeschichte gehören normalerweise zwei. Also brauchen wir jetzt einen Mann, der zu Ariadne passt. Das Schöne an dieser Methode ist, dass die erste Figur in der Regel die schwierigere ist. Denn die zweite Figur muss mit der ersten harmonieren. Harmonieren heißt hier, dass sie so aufeinander abgestimmt werden müssen, dass Spannungen zwischen ihnen entstehen. Bei einer Liebesgeschichte muss zum einen der berühmte Funke - für jeden Außenstehenden fühlbar - überspringen, zum anderen dürfen die beiden aber auch nicht von vornherein Feuer und Flamme füreinander sein, denn sonst ist die Geschichte vorbei, bevor sie angefangen hat.
Im Leben heißt es: Gegensätze ziehen sich an. Und nicht nur im Leben funktioniert das (meistens), sondern auch auf dem Papier. Man kann es sich natürlich sehr einfach machen und immer das Gegenteil der ersten Figur verwenden, doch Sie werden sehr schnell merken, dass das nicht funktioniert. Natürlich sollen die Figuren auch etwas gemeinsam haben, damit sie sich ineinander verlieben und sich auch etwas zu sagen haben, die Frage ist nur: Was?
Okay, Adrianes zukünftiger Liebhaber heißt Martin Schmitt und ist 35 Jahre alt. Martin Schmitt ist eigentlich ein Allerweltsname, dennoch hat er zur Zeit einen außergewöhnlichen Klang: Deutschlands derzeit erfolgreichster Skispringer heißt genauso. Und natürlich wird unser Martin Schmitt permanent darauf angesprochen. Und schon haben wir, ohne großartig darüber nachzudenken, eine Gemeinsamkeit zwischen Ariadne und Martin: Sie haben Probleme mit ihrem Namen.
Wie sieht Martin Schmitt aus? Er ist 176 cm groß, hat dunkle, lockige Haare mit deutlichen Geheimratsecken. Seine Augen sind ebenfalls dunkel und sitzen leicht schief in seinem Gesicht, was ihm ein verwegenes Aussehen gibt. Die Nase ist knubbelig, der Mund ein wenig zu groß. Alles in allem scheint unser Held keine besondere Schönheit zu sein. Er hat einen kräftigen, aber auch gedrungenen Körperbau mit dem Hang zu einem Bäuchlein.
Martin Schmitt stammt aus einer begüterten Familie, die immer recht sorglos mit Geld umging, weil einfach ausreichend viel da war. Der Vater ist erfolgreicher Liedkomponist und verdient viel Geld damit, die Mutter war Sängerin, gab ihre Karriere den Kindern zuliebe auf. Sie gibt heute zum Spaß Schulkindern Klavier- und Gesangsunterricht. Martin hat vier Geschwister, die in alle Winde zerstreut sind; Martin ist der einzige, der in der Nähe des Elternhauses geblieben ist. Er hängt sehr an seiner Mutter und drängt sie immer dazu, wieder mit dem Singen anzufangen. Doch sie findet das albern und ist mit dem Leben, das sie führt, recht zufrieden. Der Vater war oft in seinem Studio, um zu komponieren, doch wenn er zu Hause war, war er hundertprozentig für die Kinder da. Den Urlaub verbrachten sie damit, mit einem umgebauten Bus ziellos in Europa herumzugondeln. Martin spricht vier Sprachen fließend.
Wie finden Sie Martin? Er ist wirklich nicht der Mann, in den man sich auf den ersten Blick verliebt, aber er hat einen faszinierenden Hintergrund. Ob Ariadne auch dieser Ansicht ist? Wir werden sehen.
Martin ist fast fertig. Er braucht noch einen Beruf. Auch wenn er es nicht nötig hätte, Geld zu verdienen, möchte er doch etwas Sinnvolles tun. Wir wäre es mit Sozialarbeiter? Zu klischeehaft? Okay, wir könnten ihn auch zum - eher erfolglosen - Künstler machen. Nein, ich mache ihn zum Museumswächter, nachdem er mit seinem Kunsthistorikstudium gescheitert ist. Er liebt die Kunst, und für ihn gibt es nichts Aufregenderes, als den ganzen Tag von Kunstgegenständen umgeben zu sein. Trotz misslungenen Studiums hat er sich im Laufe der Zeit ein umfangreiches Wissen im Bereich griechischer und ägyptischer Kunst angeeignet und wurde schon häufiger von Experten im Ausland zu Konferenzen eingeladen. Er ist mit seinem Leben rundum zufrieden. Eine Frau wäre natürlich nicht schlecht, aber hie und da eine Liebschaft ist vorerst okay.
Was fehlt, ist Martins "Ruling Passion". Was könnte die treibende Kraft in seinem Leben sein? Nun, es gibt mehrere Möglichkeiten:
- Er möchte eine bedeutende archäologische Entdeckung machen.
- Er möchte einfach das Leben genießen.
- Er möchte für das Museum, in dem er arbeitet, einen ganz bestimmten Gegenstand erwerben.
Nun? Für Punkt a) scheint er mir einfach zu träge zu sein; Punkt b) ist zu banal, irgendwo wollen wir das doch alle (von Workaholics mal abgesehen); Punkt c) scheint mir jedoch passend zu sein, ich entscheide mich also dafür.
Gut, wir haben also jetzt zwei Personen, von denen wir wissen, dass sie sich irgendwann ineinander verlieben werden. Wie und wo das geschieht, ist allerdings eine andere Geschichte.
Zum Nachmachen!
Egal, ob Sie bereits eine konkrete Geschichte im Kopf haben oder nicht, versuchen Sie einfach mal, zwei Figuren zu schaffen. Geben Sie Ihrer Figur auch mal einen anderen Namen, und Sie werden staunen, wie schnell sich Ihre Vorstellung von ihr ändert. Auch wenn Sie noch keinen Plot vor Augen haben, werden Sie bald feststellen, dass in Ihren Figuren sehr viele Geschichten stecken. In der Regel ergeben sich bereits bei der ersten Figur zahlreiche Möglichkeiten. Doch selbst wenn Ihnen da noch nichts einfällt, passiert das spätestens, wenn Sie die zweite Figur dazu erschaffen. Probieren Sies aus!
P. S.: Meine weibliche Hauptfigur hieß erst Justine Fromm. Dann erfand ich ihre Familie und dachte mir: Der Vater hat seine Töchter sicher nach der griechischen Mythologie benannt. Also wurde aus Justine Ariadne. So kanns gehen.