Editorial
Hall of Fame
Neues aus der Buchszene
Schreib-Kick
„Dialoge“
von Nora-Marie Borrusch
Autorenwissen
„Belohnungen nutzen, um den Widerstand gegen das Schreiben zu überwinden“
von Pia Helfferich
„Lektorat und Überarbeitung: Die Erzählstimme, Teil 1“
von Hans Peter Roentgen
Impressum
Liebe Autorinnen und Autoren,
was ist eigentlich die Erzählstimme? Und wie hängt sie mit Perspektive und Distanz zusammen? In seinem zweiteiligen Artikel dröselt Hans Peter Roentgen das für uns auf - wie immer mit vielen Beispielen und seinen Erkenntnissen aus jahrelanger Lektoratspraxis.
Manchmal klappt es mit dem Schreiben nicht. Obwohl die Deadline immer unfreundlicher winkt und die Story doch eigentlich steht. Wie man dem eigenen Autor*innen-Schweinehund mit Belohnungen auf die Sprünge helfen kann, das zeigt uns Pia Helfferich in ihrem Beitrag.
Einen Schreib-Kick von Nora-Marie Borrusch gibt es auch wieder, ebenso einige neue Ausschreibungen und Seminare in Teil 2 des Tempest. Und auf nützliche Internetfundstücke von Ramona Roth-Berghofer müssen wir ebenfalls nicht verzichten.
Der Tipp des Monats, diesmal von Mira Monroe:
I love that as fellow authors, we are not competitors but teammates. It's a vast world--stories/books, there is room for all of us.
Neues Jahr, neue Aufforderung an alle, die den Tempest lesen und nutzen: Bitte überweist uns einen kleinen (oder auch großen) Beitrag, damit wir diese Arbeit auch im 24. Online-Jahr (!) nicht komplett gratis machen müssen. Am einfachsten direkt über unsere Website per Paypal; andere Möglichkeiten findet ihr unterm Editorial. Danke!
Gabi Neumayer
Chefredakteurin
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Stichwort: „Beitrag Tempest“
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Und wer nicht überweisen möchte, kann uns den Beitrag auch weiterhin per Post schicken (Adresse am Ende des Tempest).
ISSN 1439-4669 Copyright 2022 autorenforum.de. Copyright- und Kontaktinformationen am Ende dieser Ausgabe
INHALT DIESER AUSGABE
TEIL 1
Editorial
Hall of Fame
Neues aus der Buchszene
Schreib-Kick
„Dialoge“
von Nora-Marie Borrusch
Autorenwissen
„Belohnungen nutzen, um den Widerstand gegen das Schreiben zu überwinden“
von Pia Helfferich
„Lektorat und Überarbeitung: Die Erzählstimme, Teil 1“
von Hans Peter Roentgen
Impressum
TEIL 2 (in separater E-Mail, falls ebenfalls abonniert)
Veranstaltungen
Ausschreibungen
Publikationsmöglichkeiten
mit Honorar
ohne Honorar
Seminare
Messekalender
HALL OF FAME (
Die „Hall of Fame“ zeigt die Erfolge von AbonnentInnen des Tempest. Wir freuen uns, wenn ihr euch davon motivieren und ermutigen lasst - dann werden wir euer neues Buch hier bestimmt auch bald vorstellen können.
Melden könnt ihr aktuelle Buchveröffentlichungen (nur Erstauflagen!) nach diesem Schema:
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AutorIn: „Titel“, Verlag Erscheinungsjahr (das muss immer das laufende oder das vergangene Jahr sein!), Genre (maximal 2 Wörter). Zusätzlich könnt ihr in maximal 60 Zeichen (nicht Wörtern!) inklusive Leerzeichen weitere Infos zu eurem Buch unterbringen, zum Beispiel eine Homepage-Adresse.
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Ein Beispiel (!):
Johanna Ernst: „Der Fall der falschen Meldung“, Hüstel Verlag 2015, Mystery-Thriller. Dann noch 60 Zeichen - und keins mehr! Inklusive Homepage!
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Ausgeschlossen sind Veröffentlichungen in Anthologien, Bücher im Eigenverlag und BoDs (sofern sie im Eigenverlag erschienen sind) sowie Veröffentlichungen in Druckkostenzuschussverlagen.
ACHTUNG!
Schreibt in eure Mail mit der Meldung immer auch hinein, dass ihr bestätigt, dass die Veröffentlichung weder im Eigenverlag noch in einem Verlag erschienen ist, bei dem der Autor irgendetwas bezahlt hat! Als Bezahlung gilt auch, wenn er Bücher kostenpflichtig abnehmen muss, Lektorat bezahlt o. Ä.
Schickt eure Texte unter dem Betreff „Hall of Fame“ an d
Wir berücksichtigen ausschließlich Meldungen, die nach dem obigen Schema gemacht werden und die Bestätigung zum Verlag enthalten. Änderungsaufforderungen zu Meldungen, bei denen das nicht der Fall ist, werden ab sofort nicht mehr verschickt!
Carmen Bellmonte: „Zeiten des Wandels / Die Mallorca-Saga“, Heyne Verlag 2022, Familiensaga. Mallorca
Victor Boden: „Das blaue Ende der Zeit“, p.machinery 2022, Science-Fiction. Paperback 644 Seiten + E-Book, www.pseudoraum.com
Anja Marschall: “Töchter der Speicherstadt - Der Duft von Kaffeeblüten“, Piper 2022, Roman. 100 Jahre Hamburger Kaffeehandel und eine Familie.
NEUES AUS DER BUCHSZENE (
Wir leben in turbulenten Zeiten, die Buchbranche ist in Bewegung wie nie zuvor. Ob es nun um neue Vertragsbedingungen mit Amazon geht, die zunehmende Digitalisierung des Marktes oder all die neuen Chancen und Möglichkeiten, die sich Verlagsautoren und professionellen Selfpublishern bieten: Eine Nachricht jagt die nächste. Damit ihr den Überblick behaltet und nichts Wichtiges verpasst, fassen wir hier alle interessanten Links zusammen, die uns jeden Monat ins Auge fallen - natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Interviews
Michael Schickerling: „Bücherschreiben benötigt einen überzeugenden Plan.“
Zsolnay-Verleger Herbert Ohrlinger zu Buchpreisen und Bestsellern.
Buchhandel / Zwischenhandel / Börsenverein
Die Beschaffungskrise: Papierindustrie fordert Eingreifen der Politik.
Börsenverein: Vorstandswahl 2022. Die Vorsteherin tritt wieder an. Wer noch?
Branchennachwuchs: Wieder mehr Ausbildungsverträge im Buchhandel.
Verlage
Antje Kunstmann: „Warum immer wachsen?“
Kostensteigerung und Preispolitik bei dtv: „Wir schauen uns jedes Buch unter dem Preisaspekt an.“
Bastei Lübbe steigert Umsatz und Konzernergebnis.
Wie die Ratgeberverlage mit Trends umgehen.
Kultur / Politik / Literaturszene
Schreibzeug-Podcast über Klappentext und Buchcover.
Nach der Leipzig-Absage: Eine Branche im Streit.
Preise / Auszeichnungen
Literaturpreisverleihung des Seraph am Samstag, den 19. März, um 19 Uhr live im Internet streamen.
Nachwuchspreis für Bilderbuch-Illustration: Das sind die Buntspecht-Finalist:innen 2022.
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.
International
Bologna Announces Plans, Shortlists for Publishers of the Year Award.
Italian Book Sales Jumped 16% in 2021.
Books Sales Rose in U.K., France and Germany in 2021.
Amazon Asks France to Nix New Shipping Regulations.
SCHREIB-KICK (
„Dialoge“
von Nora-Marie Borrusch
Dialoge in Romanen unterscheiden sich sehr von denen der Realität.
Beispielsweise schreibt man gewisse Dinge nicht auf, da sie im Roman viel auffälliger sind als im richtigen Leben. Gemeint sind hier Füllwörter und Rumgestammel („äh, hm, ähm“), Dialekte, Stottern (weil man sich verhaspelt), Lallen (weil betrunken), Akzent oder umgangssprachliche Verkürzungen („nich“ statt „nicht“).
Einige dieser Dinge werden einfach überlesen oder sind nicht relevant. Wenn sie nicht relevant sind, empfiehlt es sich, sie wegzulassen, da sie die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf unnötige Dinge lenken. Wenn sie überlesen werden – in gesprochener Sprache sagt man „nich“; wenn man das „t“ ausspräche, wirkte es gesprochen gestelzt; geschrieben wirkt es normal –, kann man sie ebenso gut weglassen, da auch sie unnötig Aufmerksamkeit beanspruchen.
Andererseits kann man genau dies nutzen. Wenn zum Beispiel der Protagonist zu einem Schlangenvolk kommt, dessen Mitglieder sssehr auffällig sssprechen und der Protagonissst – und die Lessserssschaft – erssstmal entssscheiden müsssssen, ob sssie ihm wohlgesssinnt sssind oder nicht ...
Übung
Nehmen Sie einen Ihrer Dialoge, setzen Sie ihn in Dialekt, und legen Sie beide nebeneinander. Beobachten Sie, welchen Effekt das auf Sie hat und ob das der Effekt ist, 1. den Sie sich gedacht haben und 2. den Sie Ihrer Leserschaft wünschen.
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Nora-Marie Borrusch promoviert in Musikwissenschaft über Mittelalter-Rock, bearbeitet als Lektorin im VfLL am liebsten Fantasy-Romane, hat einen Papageienschwarm und schreibt das eine oder andere Geschichtchen. Wer mehr wissen will, findet Infos unter www.lektorat-agapenna.com
AUTORENWISSEN (
„Belohnungen nutzen, um den Widerstand gegen das Schreiben zu überwinden“
von Pia Helfferich
Den meisten von uns geht es wohl so, dass wir uns nicht jeden Tag mit Begeisterung auf das aktuelle Projekt stürzen, um dann mit Feuereifer daran zu arbeiten. Vielleicht befindet man sich gerade in der Phase, in der man das Manuskript für völlig missraten hält. Oder man muss das verhasste Exposé für die Agentur oder den Verlag schreiben. Oder man weiß einfach noch nicht, wie man die Protagonistin aus der aktuellen Lage befreien soll. Es gibt viele Gründe, um Widerstand gegen das Schreiben zu spüren. Was kann man tun, um ihn zu überwinden?
Eine Möglichkeit besteht darin, mit Belohnungen zu arbeiten. Also sage ich mir: „Du darfst heute Abend Netflix schauen, wenn du jetzt das Exposé schreibst!“? So funktioniert es nicht. Man muss etwas sorgfältiger vorgehen, um das volle Potential der Belohnungen zu nutzen.
Was passiert, wenn wir eine Belohnung erhalten?
Zunächst einmal müssen wir uns fragen, warum Belohnungen überhaupt funktionieren können.
Wenn wir eine Belohnung erhalten, dann schüttet unser Gehirn vermehrt Dopamin und Acetylcholin aus. Diese beiden Neurotransmitter sorgen dafür, dass wir uns wohlfühlen, Glücksgefühle spüren und dass wir uns diesen Moment merken. Wendet man Belohnungen konsequent an, dann wird man die vormals unangenehme Aufgabe in einem positiveren Licht sehen und weniger Widerstand gegen sie empfinden. Es wird einfacher, diese Aufgabe anzugehen.
Pünktlich und schön
Um diesen positiven Effekt zu erreichen, müssen aber zwei Dinge gegeben sein: Erstens muss die Belohnung tatsächlich etwas Schönes und Besonderes sein für den Menschen, der sich belohnt. Was das sein kann, ist natürlich individuell höchst unterschiedlich. Klar ist jedoch, wenn wir sowieso täglich Schokolade essen, wird uns die Aussicht auf einen weiteren Riegel nicht sonderlich beeindrucken. Verzichten wir normalerweise auf Schokolade, könnte so ein Riegel eine besondere Belohnung sein.
Zweitens muss die Belohnung sofort kommen. Morgens am Exposé zu schreiben, um abends Netflix zu schauen, wäre also kein gutes Belohnungssystem, weil unser Gehirn diese beiden Dinge nicht mehr miteinander verknüpft. Dabei spielt es dann auch keine Rolle, wie groß, besonders und wunderbar die Belohnung ausfällt.
Nimmt man sich beispielsweise vor, sobald man die erste Fassung beendet hat, in die Eifel zu fahren, um in einen Vulkansee zu springen, dann ist das keine Belohnung, die unser Verhalten stark motiviert, sondern die Feier unserer Leistung. Das ist auch etwas Schönes, es hat aber nicht die Wirkung, uns gegen unseren Widerstand jeden Tag an den Schreibtisch zu bringen, uns schneller anfangen zu lassen etc.
Belohnungen können auch schädlich sein
Jetzt ist allerdings der Moment gekommen, um ein großes ABER einzuwenden. Denn nun wissen wir zwar, wie Belohnungen funktionieren können, aber sie können tatsächlich auch schädlich sein. Sobald man eine Belohnung einsetzt, deklariert man die dazu gehörende Aufgabe als etwas Negatives, Unangenehmes. Und es hilft der Motivation nicht unbedingt auf die Sprünge, wenn man sich auf das Unangenehme konzentriert.
Ein anderes Problem besteht darin, dass es passieren kann, dass wir immer größere Belohnungen benötigen, um uns zu motivieren. Das sollte man im Blick behalten, um rechtzeitig gegensteuern zu können.
Am größten ist das dritte Problem: Setzt man Belohnungen dort ein, wo intrinsische Motivation am Werk ist, dann schwächen sie im Laufe der Zeit diese intrinsische Motivation.
Beim Schreiben betrifft das alle Vorgänge, die mit dem direkten Schreiben der Geschichte zu tun haben, also alles, wofür wir kreatives Denken in Anspruch nehmen. Die intrinsische Motivation entsteht durch den Spaß an der Sache. Es macht uns Freude, Herausforderungen anzugehen und Neues zu entdecken. Wenn wir mit Belohnungen arbeiten, dann wollen wir etwas erledigt haben, wir nehmen den einfachsten Weg, um unser Ziel zu erreichen. Die Qualität unserer Arbeit wird folglich flacher. Es wäre also eine schlechte Idee, Belohnungen zu nutzen, um die Wort- oder Seitenzahl pro Tag zu erhöhen.
Belohnungen bei Mangel an intrinsischer Motivation
Bei Routineaufgaben hingegen und immer dann, wenn wir stur eine Schritt-für-Schritt-Anleitung abarbeiten, können wir gut auf Belohnungen zurückgreifen, um die Aufgaben schneller und effektiver zu erledigen, denn dort spielt die intrinsische Motivation keine Rolle. Korrektur lesen, das Layout formatieren, das können Aufgaben sein, bei denen Belohnungen gut wirken.
Wir müssen uns also fragen, welche Phase im Schreibprozess wir selbst am wenigsten mögen. Wofür haben wir keinerlei intrinsische Motivation über und schieben es deswegen gerne vor uns her?
Passende Belohnungen finden
Die nächste Frage an uns lautet, was denn als Belohnung funktionieren könnte. Was ist so besonders, dass es uns eine echte Freude bereitet, und gleichzeitig alltäglich genug, um es zumindest eine Zeitlang verwenden zu können?
Zeit ist oft eine gute Belohnung. Vielleicht erlaubt man sich eine Weile zu lesen, eventuell in einem Buch, das man nur für das Belohnungslesen verwendet. Oder man gibt sich Zeit für etwas anderes Schönes, Spielerisches, für das man oft nicht genug Zeit hat.
Eine andere tolle Idee, von der mir ein Workshopteilnehmer berichtet hat, ist es, zur Belohnung – und nur dann – am Lieblingsparfüm zu riechen.
Den Widerstand wegbelohnen
Nun ist es ja ganz schön, wenn man bei der Bewältigung von Routineaufgaben durch Belohnungen unterstützt werden kann. Aber noch besser wäre es, wenn man, wie eingangs erwähnt, in Phasen Hilfe bekäme, in denen man sich einfach nicht überwinden kann, das Schreiben zu beginnen.
Wenn man sich der Gefahren, die von Belohnungen ausgehen, bewusst ist, kann man sie auch kurzfristig einsetzen, um einen akuten Anfall von Widerstand gegen das Schreiben zu überwinden. Dann kann man so vorgehen, dass man sich dafür belohnt, am Schreibtisch angekommen zu sein, und hinterher belohnt man sich noch mal.
Allerdings ist es wichtig, dann niemals das Ergebnis zu honorieren, sondern nur die Anstrengung, die man dafür unternommen hat, also dass man überhaupt geschrieben hat. Bei allergrößtem Widerstand könnte man auch noch eine Stufe zurückgehen und sich belohnen, wenn man nur eine gewisse Zeit mit dem Manuskript verbracht hat, egal ob man etwas geschrieben hat oder nicht.
Belohnungen sind eine freundliche Möglichkeit, den Ablauf unseres Schreibprozesses zu verbessern. Freundlich sollten wir auch uns selbst gegenüber sein, wenn wir überlegen, wo wir im Moment Schwierigkeiten haben, bei deren Bewältigung Belohnungen uns unterstützen können.
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Pia Helfferich ist Autorin und leitet Schreibworkshops für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Am liebsten hilft sie Autor*innen dabei, das Aufschieben zu überwinden und wieder Freude am Schreiben zu haben. Aktueller Workshop: „Schreiben statt prokrastinieren“. www.online-schreibworkshop.de
AUTORENWISSEN (
„Lektorat und Überarbeitung: Die Erzählstimme, Teil 1“
von Hans Peter Roentgen
Was mir schnell auffällt, wenn ich einen Text erhalte: die Erzählstimme. Wird die Geschichte so erzählt, dass sie mich in den Text zieht? Oder habe ich das Gefühl, da fehlt etwas, ist etwas nicht gelungen? Oft ist es dann die Erzählstimme, die nicht passt.
Aber was ist eigentlich diese Erzählstimme?
Erzählstimme
Ich fahre mit meinem zehnjährigen Neffen und dessen Freund nach München ins Deutsche Museum. Ab und zu erzähle ich gerne Unsinnsgeschichten, jetzt auch. Und mein Neffe wendet sich an seinen Freund und erklärt stolz: „Jetzt hat Hans Peter seine Erzählstimme. Dann darfst du ihm nichts glauben.“
Ich bin nicht der Einzige, der für seine Geschichten eine eigene Stimme benutzt. Dennoch ist die Erzählstimme das Stiefkind des Handwerks. Im Internet findet sich wenig darüber.
Das lyrische Ich
Bekannt ist die Erzählstimme in der Lyrik, das „lyrische Ich“. Ein Gedicht wird nicht von dem Verfasser direkt gesprochen, sondern er benutzt eine eigene Stimme, eben das lyrische Ich. Ein Beispiel:
„Schäfers Klagelied“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Da droben auf jenem Berge,
Da steh ich tausendmal,
An meinem Stabe gebogen,
Und schaue hinab in das Tal.
Dann folg ich der weidenden Herde,
mein Hündchen bewahret mir sie.
Ich bin heruntergekommen
Und weiß doch selber nicht, wie. […]
Ganz offensichtlich ist das hier nicht die Stimme von Goethe, der ins Tal schaut. Ob der Text im Kopf der Leserinnen einen Schäfer als Erzähler wecken kann, sei mal dahingestellt.
Die Erzählstimme im Roman
Während viel über das lyrische Ich geschrieben wurde, findet man über die Erzählstimme fast gar nichts -- außer einigen literaturwissenschaftlichen Artikeln, die für Autorinnen und Autoren nicht sehr hilfreich sind. Und Beiträge im Internet, in denen die Erzählstimme mit der Erzählperspektive in einen Topf geworfen wird, in der Hoffnung, dass gutes Umrühren verbirgt, dass man Unvereinbares miteinander vermischen will.
Aber jeder spürt die Erzählstimme im Buch (außer das Buch lässt einen kalt). Es gibt etwas, das uns die Geschichte erzählt: einen Erzähler. Der kann ausführlich sein, knapp, distanziert oder nah an den Figuren, er nutzt eine Erzählperspektive und einen bestimmten Stil, hat eine Wortwahl, gehobene oder Umgangssprache.
Die Erzählstimme nutzt Handwerk
Das bedeutet: Die Erzählstimme ist kein Handwerkszeug, sondern sie nutzt bestimmte Handwerksmittel. Sie wählt eine Perspektive und behält sie in der Regel bei, fokussiert eine Distanz, die wechseln kann, nutzt Stilmittel und Wortwahl, und all das dient dazu, im Kopf des Lesers die Geschichte entstehen zu lassen – und eben die Figur der Erzählstimme. Ob es eine geruhsame Stimme ist, von jemandem, der am Ofen sitzt und erzählt, oder die sehr viel emotionalere einer Teenagerin, die uns hektisch in eine Verfolgungsjagd hineinzieht: Sie bestimmt, wie die Geschichte auf uns wirkt. Und sie weckt im Leser den Film, der in seinem Kopf abläuft.
Musik
In der Musik ist es seit langem bekannt: Es kommt nicht nur auf das Stück an, sondern auch auf die Interpretation. Janis Joplin singt „Bobby McGhee“ anders als Pink oder Sheryl Crow. Warum der Song aber für immer mit Janis Joplin verbunden ist, diese Wirkung lässt sich nicht einfach erklären; die meisten Zuhörer können es nicht rational begründen. Da spielt viel unbewusste Assoziation mit hinein, wenn die eine Fassung eine stärkere Wirkung hat als eine andere.
Auch bei den Erzählstimmen gibt es unterschiedliche Varianten. Romeo und Julia wurde mittlerweile von den verschiedensten Erzählstimmen in unterschiedlichsten Umgebungen erzählt, von Shakespeare über Gottfried Keller bis zur West-Side-Story.
Erzählstimme und Autorenstimme
Die Erzählstimme ist nicht die Autorenstimme, sondern der Autor wählt eine Erzählstimme. Tut er das nicht, merken die Leserinnen das sofort. Etwa, wenn die Geschichte einer Fünfzehnjährigen erzählt wird, der Autor aber deutlich erkennbar mit seiner fünfzigjährigen Autorenstimme erzählt.
Und damit sind wir beim Thema, warum die Erzählstimme so entscheidend ist.
Die Erzählstimme zieht den Leser in die Geschichte
Die Erzählstimme legt fest, ob ein Buch Bestand hat oder schnell vergessen wird.
Wenn du zum Beispiel die Liftsteher anschaust. Die müssen den ganzen Tag nur aufpassen, dass ihnen keiner aus dem Lift herausfällt. Tagtäglich rutschen an ihnen Tausende Schifahrer vorbei. Normalerweise fällt von denen natürlich nie einer aus dem Lift, aber wenn es einmal vorkommt, auch kein Malheur. Muss der Liftsteher zum Not-off-Schalter gehen und den Lift abstellen. Und doch keine leichte Arbeit. („Auferstehung der Toten“, Wolf Haas)
Wolf Haas hat in den Brenner-Romanen eine ganz eigene Erzählstimme geschaffen, dafür die ungewöhnliche Du-Perspektive gewählt und sogar einen eigenen Stil und Dialekt erfunden. Eine Erzählstimme muss in allem passen: in Stil, Wortwahl, Perspektive und allem anderen.
Nehmen Sie das genau passende Wort, nicht seinen Cousin, das wusste schon Mark Twain.
Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände: Le manuscript de Dom Adson de Melk, traduit en français d’après l’édition de Dom J. Mabillon (Aux Presses de l’Abbaye de la Source, Paris 1842). Das Buch, versehen mit ein paar historischen Angaben, die in Wahrheit recht dürftig waren, präsentierte sich als die getreue Wiedergabe einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die der große Gelehrte des 17. Jahrhunderts, dem wir so vieles für die Geschichte des Benediktinerordens verdanken, angeblich seinerseits im Kloster Melk gefunden hatte. („Der Name der Rose“, Umberto Ecco)
Da spricht ein Wissenschaftler zu uns, der einen aufregenden Fund gemacht hat.
Als wir den steilen Pfad erklommen, der sich die Hänge hinaufwand, sah ich zum ersten Mal die Abtei. Nicht ihre Mauern überraschten mich, sie glichen den anderen, die ich allerorten in der christlichen Welt gesehen, sondern die Massigkeit dessen, was sich später als Aedificium herausstellen sollte. Es war ein achteckiger Bau, der aus der Ferne zunächst wie ein Viereck aussah.
Hier erzählt ein jüngerer Mann über seine Wanderung. Beides stammt aus dem „Namen der Rose“.
Dieses Buch hat drei Erzählstimmen. Am Anfang steht die Stimme des Wissenschaftlers, dann die des alten Abtes, der krank ist und auf seine Jugend zurückblickt. Dann springen wir in die Vergangenheit, der junge Mönch wandert zu einer Abtei. Die Erzählstimme spricht nicht mehr über das Alter, sondern erzählt uns Ereignisse, die der junge Mann wahrnimmt und erlebt.
Ach ja, die erste Stimme des Wissenschaftlers ist eindeutig die Stimme des Autors Umberto Ecco. Hatte ich nicht gerade gesagt, dass die Erzählstimme nicht die Autorenstimme sein sollte?
Richtig. Doch wie immer gibt es Ausnahmen. Am Anfang erzählt der Autor in dem „Namen der Rose“, wie er das Manuskript findet. Und das kann nur der Autor wissen, deshalb passt hier die Autorenstimme.
[Teil 2 dieses Artikels findet ihr im nächsten Tempest.]
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Hans Peter Roentgen ist Autor der Bücher „Vier Seiten für ein Halleluja“ über Romananfänge, „Drei Seiten für ein Exposé“, „Schreiben ist nichts für Feiglinge“, „Klappentext, Pitch und weiteres Getier“ und „Was dem Lektorat auffällt“. Außerdem hält er Schreibkurse und lektoriert.
UNSERE EXPERTINNEN UND EXPERTEN
Bitte schickt den Expert*innen nur Fragen zu ihrem Expertenthema - keine Manuskripte zur Beurteilung. Bitte verseht jede Anfrage mit einem aussagekräftigen Betreff. Sonst kann es sein, dass die Mail vorsichtshalber gelöscht wird.
Fragen (anonymisiert) und Antworten werden in der Regel hier im Tempest veröffentlicht, damit auch andere Autor*innen davon lernen können. Wer das aber nicht möchte, schreibt das bitte ausdrücklich dazu.
Drehbuch | Oliver Pautsch | |
Fantasy | Stefanie Bense | |
Heftroman | Arndt Ellmer | |
Historischer Roman | Titus Müller | |
Kinder- und Jugendbuch | Sylvia Englert | |
Kriminalistik | Kajo Lang | |
Lyrik | Martina Weber | |
Marketing | Maike Frie | |
Recherche | Barbara Ellermeier | |
Sachbuch | Gabi Neumayer | |
Schreibaus- und -fortbildung | Uli Rothfuss | |
Schreibhandwerk | Ute Hacker | |
Science-Fiction | Andreas Eschbach |
Veranstaltungen, Ausschreibungen, Publikationsmöglichkeiten, Messen und Seminare findet ihr im zweiten Teil des Tempest, den ihr separat abonnieren müsst.
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Gabi Neumayer (
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