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[...] Das führt dazu, dass die Fantasy-Welt, in der die Schwester gefangen gehalten wird und von der die Protagonistin erst nach und nach erfährt, erst im Laufe der Geschichte in den Fokus kommt. Ist das zu spät?

Meine Protagonistin ist auf der Suche nach ihrer Schwester und deckt detektivisch die Hintergründe ihres Verschwindens auf. Das führt dazu, dass die Fantasy-Welt, in der die Schwester gefangen gehalten wird und von der die Protagonistin erst nach und nach erfährt, erst im Laufe der Geschichte (fast in der Mitte des Buches) in Fokus kommt. Vorher ahnen wir nur, dass es noch eine andere Welt gibt. Meine Befürchtung ist nun, dass dies viel zu spät ist, auch wenn es für die Entwicklung der Geschichte wichtig ist.

Glauben Sie, dass dies für Verlage ein Grund wäre, die Geschichte abzulehnen? Gibt es Beispiele, bei denen es funktioniert hat?

Deine Beschreibung deutet darauf hin, dass es eine parallele Fantasy-Welt gibt, die neben der "Realität" der Hauptfigur existiert. Weiß deine Hauptfigur darüber Bescheid, oder entdeckt sie erst im Laufe der Story, dass es noch mehr als ihre Realität gibt? a) Falls sie Bescheid weiß, muss das früh klar gemacht werden. Heißt: Sie muss mit der Parallelwelt umgehen, als sei sie selbstverständlich. Das Selbstverständliche („Stecker in die Steckdose stecken, bevor Sie das Gerät in Betrieb nehmen“) wird häufig nicht sofort erwähnt oder beschrieben. Doch für den Leser ist es wichtig, dass – wenn Fantasy vorn auf dem Cover steht – auch ersichtlich wird, dass Fantasy drin ist.

Lösungsmöglichkeiten:

1. Auf dem Covertext deutlich machen, dass die Fantasy-Welt erst spät in die Realität einbricht; außerdem den Zusammenhang klarstellen. Warum existieren sie nebeneinander?

2. Einen Prolog vorschalten, in dem die Schwester in die Fantasy-Welt entführt wird (damit wird natürlich schon viel verraten).

3. In der Story die Hauptfigur in der Realität an die Fantasy-Welt denken lassen, kleine Begebenheiten (die für die Story, eventuell für die Detektivarbeit wichtig sind) in der Fantasy-Welt spielen lassen oder Elemente der Fantasy-Welt in die Realität kommen lassen.

b) Falls sie nicht Bescheid weiß, dass eine parallele Fantasy-Welt existiert, muss sie den Leser bei der Entdeckung mitnehmen.

Lösungsmöglichkeiten:

1. Auf dem Covertext deutlich benennen, dass sie nur an die Realität glaubt, aber ihr Weltbild massiv erschüttert wird, denn sie muss erfahren, dass ihre Schwester in einer Fantasy-Welt ..., die parallel existiert, weil ...

2. In der Story die Hauptfigur kleine Unsicherheiten in der Realität entdecken lassen. Etwas ist ungewöhnlich, anders als sonst, erstaunlich oder erschreckend, unheimlich, rational nicht erklärbar oder völlig unglaubwürdig. Immer wieder begegnen ihr Dinge, Wesen, Ereignisse, die sie an der Realität zweifeln lassen. Wenn ich dich recht verstehe, schreibst du aus der Perspektive der Hauptfigur. Dann weiß der Leser genauso viel oder wenig wie sie und kann mit ihr die Brüchigkeit der Realität und die Lebendigkeit der Fantasy-Welt Stück für Stück erfahren. Trotzdem solltest du dich fragen: Was tun die Fantasy-Welt-Antagonisten, die ihre Schwester entführt haben, um die Hauptfigur von der Fantasy-Welt fernzuhalten? Was unternehmen sie, um die Schwester zu verstecken? Das rührt an Grundsätzliches: Wie und wodurch ist deine Fantasy-Welt zugänglich? Wie kommt man da hin? Zu welchem Preis? Wer bewacht / schützt / entscheidet über den Zugang?) Wie versuchen die Antagonisten zu verhindern, dass die Fantasy-Welt entdeckt wird? Und bedenke die Konsequenzen, denn jede Handlung hat mindestens eine, in der Regel eine ganze Folge von Konsequenzen. Beispiel: Die Antagonisten zerstören den nächstgelegenen Zugang zur Fantasy-Welt, damit die Hauptfigur ihn nicht nutzen kann, damit zerstören sie das Gleichgewicht zwischen Realität und Fantasy-Welt, das „Gefüge" zerbricht oder löst sich auf oder versucht massiv, zum Ursprungszustand zurückzukehren, unter Einsatz aller Kräfte können sie den Zugang geschlossen halten, aber dann bricht er mit Macht auf / aber dann bildet sich an anderer Stelle ein neuer, über den sie keine Gewalt haben / aber dann ... und macht durch sein Erscheinen die Hauptfigur erst recht aufmerksam auf die Fantasy-Welt (kann sich z. B. in Wetterphänomenen, Farbspielen, Wahrnehmungsverschiebungen etc. darstellen), also müssen die Antagonisten jetzt die Hauptfigur direkt hindern, dazu kommen sie mit ihr Kontakt ...

So etwa baust du eine Ursache-Wirkung-Reihenfolge auf, die es ermöglicht, die Hauptfigur langsam, aber schon von Anfang an mit der Fantasy-Welt zu konfrontieren. Deine Hauptfigur kann ja auch leugnen, dass es so etwas wie diese Parallelwelt gibt. Dann wird sie die Fantasy-Anzeichen erst nach und nach akzeptieren.

3. Einen parallelen Handlungsstrang aus der Fantasy-Welt erfinden. Möglich: – Was tut die Schwester, um den Entführern zu entkommen / um die Protagonistin fernzuhalten, weil die Schwester in der Fantasy-Welt bleiben will? – Was tun die Antagonisten, um die Schwester zu entführen und zu verstecken? – Was unternehmen die Gegner der Antagonisten in der Fantasy-Welt, um die Entführung rückgängig zu machen? – Wie könnten Wächter (z. B. des Tors, des Gefüges, des Gleichgewichts) eingreifen? Gehen sie gegen die Antagonisten, gegen die Schwester oder Hauptfigur vor? ...

Überdenke deine Plotkonstruktion! Schreibst du Urban Fantasy, dann sind Fantasy-Welt und Realität verschränkt. Deine Hauptfigur kann die Fantasy-Ebene nach und nach entdecken, aber anderen muss die Fantasy-Welt ganz geläufig sein. Sie existiert nicht versteckt, die Hauptfigur hatte nur bislang keinen Kontakt.

Schreibst du Fantasy, ist die Fantasy-Welt das Hauptsetting. Dann sollte die Hauptfigur entweder direkt in die Fantasy-Welt verschlagen werden oder spätestens am Ende des ersten Viertels (1. Wendepunkt).

Nebenbei frage ich mich, wer eigentlich die interessantere Figur ist und wer die spannendere Story zu erzählen hat. Die Hauptfigur, die der Schwester nachjagt? Oder die Schwester, die entführt wird und sich wehren muss? Wenn du bei deiner Hauptfigur bleiben willst, dann benötigt sie ein sehr sehr starkes Motiv, um die Schwester wiederfinden zu wollen (etwa, dass sie der Hauptfigur Knochenmark spenden muss, sonst stirbt die Hauptfigur). Es muss etwas sehr viel Existentielleres sein als Schwesternliebe. Bliebe ja immer noch die Möglichkeit, zwei parallele Handlungsstränge zu verknüpfen: eine Detektivstory mit der Perspektive Hauptfigur und eine Eine-gegen-alle-Story mit der Perspektive Schwester.

Verlage lehnen Manuskripte ab, wenn sie keine Verkaufschancen sehen oder meinen, zu viel Arbeit in das Projekt stecken zu müssen, bis es marktreif ist. Wenn du deine Geschichte spannend, originell und gut strukturiert schreibst (also bewusst die Fantasy-Welt erst spät auftreten lässt, weil es in dieser Struktur keine andere Lösung gibt, weil der Erzählstrang es so braucht, weil es handwerklich nicht anders geht), dann lehnen sie nicht ab, wenn die Fantasy-Welt spät in Erscheinung tritt.

Ich kenne aus dem Stand keinen Beispielroman, in dem die Fantasy-Welt später als zum Ende des ersten Viertels eingeführt wird. Kai Meyer hat in seiner Arkadien-Trilogie recht gut Realität und Fantasy verschränkt, aber auch da bricht die Fantasy früher ein.

beantwortet von: Stefanie Bense (14-6)

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