Ich möchte ein Gedicht in einem Buch veröffentlichen, das dem Autor 1 von der Autorin 2 (beide Autoren sind öffentlich schriftstellerisch bekannt) handschriftlich geschrieben, gewidmet und geschenkt wurde (und das bislang unveröffentlicht ist). Die Autorin 2 ist bereits im Jahr 1993 verstorben. Das Gedicht befindet sich seit der Schenkung im Jahr 1977 im Eigentum des Autor 1. Er hat es mir ausgehändigt mit der Aufforderung, es in meinem Buch zu veröffentlichen.
Ist das rechtlich in Ordnung, oder muss ich irgendwelche Erben der Autorin 2 auftun und diese um Zustimmung zur Veröffentlichung fragen? Das könnte sich auch schwierig gestalten, sie war kinderlos, ihr Mann lebt ebenfalls nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, wer Inhaber ihrer Urheberrechte wurde.
Es kommt immer wieder vor, dass eine Lyrikerin ein Gedicht schreibt und es jemandem widmet. "Für Paul" steht dann vielleicht klein gedruckt ein Stück rechts neben dem Titel. Es ist auch üblich, dass LyrikerInnen einander ihre Gedichte schicken, heutzutage wohl fast immer per E-Mail, und meist zu dem Zweck, über die Arbeit zu diskutieren, sie also gegebenenfalls vor einer Veröffentlichung zu überarbeiten. Oder einfach nur zum freundlichen Austausch.
Betrachten wir es juristisch. Angenommen, Lyrikerin L 1 schreibt handschriftlich ein Gedicht, widmet es Person P ("für P") und überreicht es ihr. Was bedeutet das? Die Lyrikerin L 1 ist Autorin des Gedichtes und damit Urheberin im Sinn des Urhebergesetzes. Damit ist L 1 berechtigt zu entscheiden, wer ihr Werk nutzen darf. L 1 entscheidet, ob sie ihr Gedicht veröffentlichen möchte (und wenn ja, dann in welchem Medium) und ob sie es überhaupt veröffentlichen möchte.
Die Übertragung von Nutzungsrechten regelt § 31 Urheberrechtsgesetz. Überträgt L 1 der P ein Nutzungsrecht, weil sie ihr Gedicht der P gewidmet hat? Nein. Eine Widmung ist keine Übertragung von Nutzungsrechten, es ist ein Vorgang ohne juristische Bedeutung. Ändert sich etwas, weil L 1 ihr Gedicht in handschriftlicher Fassung der P geschenkt hat? Nein. Durch die bloße Schenkung des Blattes Papier, auf dem das Gedicht geschrieben ist, wird zwar das Papier übereignet, die P erwirbt also Eigentum am Papier, aber P erwirbt nicht automatisch das Nutzungsrecht am Gedicht. Es ist weiter L 1, die entscheidet, ob und in welchem Medium ihr Gedicht veröffentlicht wird.
Das gilt auch dann, wenn die handschriftliche Fassung die einzige Fassung des Gedichtes ist. Wollte L 1 mit der Schenkung des handschriftlichen Gedichtes der P gleichzeitig ein Nutzungsrecht übertragen, müsste L 1 das ausdrücklich deutlich machen. Es wäre der Ausnahmefall. Die Übertragung eines Nutzungsrechtes müsste in einem etwaigen Prozess von der Person, die das Gedicht ohne Erlaubnis der L 1 veröffentlicht, nachgewiesen werden.
Wenn L 1 stirbt, geht das Nutzungsrecht auf die Erben über, falls nichts anderes bestimmt ist (zum Beispiel in einem Testament oder in einem Vertrag). Irgendjemand ist immer Erbe. Wenn weder ein Testament noch Angehörige vorhanden sind, wird eine Nachlassverwalterin eingesetzt. Kann diese nicht ausfindig gemacht werden, ändert das nichts an der Rechtslage: Die Person, der das Gedicht gewidmet und geschenkt wurde, hat kein Nutzungsrecht am Gedicht. Die Person, der das Gedicht handschriftlich geschenkt und gewidmet wurde, ist nicht berechtigt, darüber zu entscheiden, ob und in welchem Medium das Gedicht veröffentlicht werden darf. Eine Veröffentlichung ist nur mit Zustimmung des Nutzungsberechtigten rechtlich korrekt. Das sind im Normalfall die Erben.