Ist es guter Stil, in Lyrikveröffentlichungen Gedichte lebender und mehr oder weniger bis unbekannter Autoren zusammen mit Gedichten "toter Dichter" zu veröffentlichen? Meine Meinung dazu ist, dass die unbekannten Autoren damit von den "Lorbeeren" der alten Meister mit profitieren wollen; das gilt auch für Herausgeber, die solche Werke zusammenstellen. Hier erhofft man sich einen höheren Buchverkauf (soweit von Buchverkauf im Lyrikbereich überhaupt noch gesprochen werden kann).
Es ist ein durchaus übliches Verfahren, in Anthologien Gedichte von Klassikern mit denen von Zeitgenossen gemeinsam zu veröffentlichen. Abgesehen von dem über 1.300-seitigen Der neue Conrady, in dem Karl Otto Conrady Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart herausgibt, handelt es sich bei den Anthologien meist um themengebundene Bücher, wobei die Themen von der Liebe (zum Beispiel: Ich sah dich ja im Traum, ausgewählt von Monika Heinker und Ingetraud Rogalla, Reclam Leipzig) über Gedichte von Frauen (zum Beispiel Frauen dichten anders, 181 Gedichte mit Interpretationen, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki, Insel Verlag) bis zu etwas skurrileren Themen wie Tiere (zum Beispiel Das ABC der Tiere, herausgegeben von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, Reclam Stuttgart) und die Farbe Blau reichen (zum Beispiel Blaue Gedichte, herausgegeben von Gabriele Sander, Reclam Stuttgart).
Ziel der genannten Anthologien ist es, das Thema möglichst umfassend quer durch die deutschsprachige oder teilweise auch darüber hinausgehende Lyrikgeschichte zu erfassen. In diesen Bänden sind die VertreterInnen der jüngeren Generation jedoch durchweg bekannte AutorInnen. Es gibt aber durchaus auch seriöse Anthologien, die neben alten MeisterInnen und bekannten GegenwartslyrikerInnen unbekannte Talente aufnehmen, zum Beispiel der von Anton G. Leitner und Anja Utler bei dtv herausgegebene Band Heiß auf dich, 100 Lock- und Liebesgedichte.
Ob das konkrete Projekt, an dem Sie sich beteiligen möchten, seriös ist, hängt natürlich noch von weiteren Faktoren ab, aber die Tatsache, dass Texte sehr unterschiedlicher Entstehungszeiten darin versammelt sind, ist kein Makel.