Worauf soll / kann / muss ich achten, wenn ich Gedichte lektoriere? Gibt es eine Art Checkliste inhaltlicher bzw. formaler Kriterien?
Sie haben Glück: Vor kurzem bin ich vom ersten internationalen Treffen der LyriklektorInnen in Berlin zurückgekehrt, wo ein rechtsverbindlicher Kodex für Lyriklektorate erarbeitet wurde, nach dem ...
Spaß beiseite. Wer sollte eine Checkliste vorgeben? Es gibt keine, weil es spätestens seit der Romantik keine vorgegebene Regelpoetik mehr gibt. Vor 220 Jahren und vor allem in der Barockzeit hätte ich Ihnen noch eine ausgefeilte Liste bieten können, anhand derer Sie die Qualität von Gedichten wie mit Schulnoten hätten beurteilen können. Heutzutage folgt jedes gute Gedicht eigenen, oft sehr eigenwilligen Gesetzen, und die interessantesten Gedichte betreten auf irgendeine Art Neuland und erweitern damit die Grenzen der Gattung "Lyrik". Ein Gedicht zu lektorieren erfordert ein Gespür für die individuelle Poetologie, die dem Gedicht zugrunde liegt. Deshalb wäre Ihre Frage viel leichter zu beantworten, wenn ich Ihnen anhand eines konkreten Gedichtes zeigen könnte, wie ein Lektorat aussehen könnte.
Ihre Frage ist aber viel zu wichtig, um sie auf einem allgemeinen Niveau zu beantworten. Deshalb stelle ich hier einige Punkte zusammen, die bei der Überarbeitung von Gedichten sei es durch die Autorin selbst, sei es durch ein Lektorat berücksichtigt werden sollten, wobei ich davon ausgehe, dass es eher um Gedichte von LyrikanfängerInnen geht.
Allgemein geht es in der Lyrik nicht darum, Gefühle auszudrücken, indem man sich etwas von der Seele schreibt, dabei aber möglichst nebulös bleibt, um doch nicht allzu viel über sich zu verraten. Vielmehr geht es darum, im Lesenden etwas auszulösen, ihm also Material zu liefern für eigene Gedanken und Gefühle.
Wer mit Metren arbeitet, muss darauf achten, dass das Metrum korrekt eingehalten wird. Auch ein regelmäßiges Reimschema muss stimmen.
Betrachten Sie jedes Adjektiv skeptisch darauf hin, ob es wirklich nötig ist. Wie in der Prosa werden beschreibende Adjektive (zum Beispiel "rot") eher akzeptiert als bewertende ("ungezogen"), denn wer wertende Adjektive verwendet, steht im Verdacht, etwas zu erklären, was er hätte zeigen sollen. Dies gilt auch für Adverbien.
Meiden Sie Klischees sowohl im sprachlichen Ausdruck als auch in der Lebenshaltung, die sich im Gedicht zeigt.
Verwenden Sie originelle Details und Bilder, die dem Lesenden einen neuen Blick auf die Welt bieten.
Meiden Sie Abstrakta, ziehen Sie Konkreta vor. Ein Apfel ist anschaulicher als "Obst".
Die Sprache muss stimmen.
Das Ende eines Gedichtes ist gelungen, wenn die Leserin das Gedicht sofort noch einmal lesen möchte.
Ist das Gedicht vom Aufbau her insgesamt stimmig? Stimmt die Dramaturgie? Diese Fragen sind die schwierigsten, weil sie an Erfahrungen anknüpfen, die nur durch eine intensive Lyriklektüre zu erlangen sind.
Lesen Sie das Gedicht laut, halten Sie nach jeder Zeile kurz inne, und spüren Sie ihr Wort für Wort nach. Wenn das Gedicht in Ihnen etwas auslöst, das nicht direkt in den Zeilen steht, ist es gut.
Die Einschränkung, dass sich die genannten Punkte eher auf Gedichte von AnfängerInnen beziehen, habe ich deshalb genannt, weil vorgerückte LyrikerInnen alle Regeln durchbrechen können allerdings muss man den Gedichten anmerken, dass sie die Regeln verstanden haben.