Vor kurzem habe ich mich mit einigen Gedichten bei einem kleinen Verlag (kein Zuschuss, kein BoD) auf eine Lyrikanthologie beworben. Der Verlag bekundete Interesse, allerdings möchte das Lektorat diverse Änderungen vornehmen, in allen Gedichten soll ich demnach einige Teile streichen, andere umformulieren. Mich hat das verwundert, und ich möchte Sie fragen, ob das ein übliches Vorgehen ist?
Dass bei einem längeren Werk Fehler unterlaufen, die korrigiert werden müssen, kann ich mir vorstellen, aber bei Gedichten handelt es sich doch um "fertige" Texte. Bisher habe ich mich mit einigen Texten bei Zeitschriften und ähnlichen Projekten beworben und dabei auch schon Erfolg gehabt. Dabei war das Verfahren aber immer so, dass meine Gedichte entweder abgelehnt oder angenommen wurden, Überarbeitungen aber nicht verlangt wurden. So würde ich es gerne weiter halten – oder mache ich mir damit falsche Vorstellungen über die Lyrik- beziehungsweise Verlagswelt?
Bei der Veröffentlichung von Gedichten in Literaturzeitschriften und Anthologien ist es tatsächlich üblich, dass Gedichte entweder angenommen oder abgelehnt werden. Dass die Redaktion oder die Herausgeberin Lektoratsvorschläge macht, kommt eher selten vor. Solche Vorschläge sehe ich allerdings positiv, sie sind ein Zeichen dafür, dass sich jemand Gedanken um Ihre Texte macht. Lektoratsvorschläge können für Ihre Arbeit sehr hilfreich sein. Ich würde sie nicht grundsätzlich ablehnen, sondern die Gedichte entsprechend der Vorschläge umschreiben, sie auf mich wirken lassen und darüber nachsinnen, ob die Gedichte dadurch besser werden oder nicht. Wenn Sie von den Änderungsvorschlägen überzeugt sind, sollten Sie sich darauf einlassen. Wenn Sie die Vorschläge ablehnen, schreiben Sie das an die Herausgeberin der Anthologie, und stellen Sie klar, dass Sie Ihre Gedichte nur so, wie Sie sie eingereicht haben, veröffentlichen möchten und lieber auf eine Veröffentlichung verzichten als die vorgeschlagenen Änderungen einzuarbeiten.
Ihre Ansicht, dass Gedichte im Unterschied zu längeren Prosatexten "fertige" Texte seien, kann ich allerdings nicht teilen. Ganz im Gegenteil gelingen besonders in den ersten Jahren des Gedichteschreibens nur wenige Texte, und die angehende Lyrikerin sollte, wenn sie es ernst meint mit ihrer Kunst, zunächst das Handwerkszeug der Lyrik lernen und viel herumprobieren. So wie eine Prosaautorin sollte jede Lyrikerin lernen, ihre eigenen Gedichte zu überarbeiten, also selbst zu lektorieren. Eine Literaturgruppe und Brief- oder E-Mail-Kontakte zu Kolleginnen sind dabei sehr empfehlenswert.
Hier noch zwei Anregungen zum Lektorat Ihrer Gedichte:
- In der Ausgabe des "The Tempest" vom 20.6.2008 habe ich bereits eine Anfrage zu Kriterien für ein Lyriklektorat beantwortet. Frage und Antwort finden Sie im Archiv des "The Tempest" unter
http://www.autorenforum.de/content/view/692/77/
- In der Juniausgabe 2009 des Schreibmagazins "Textart" (http://textartmagazin.eomis.de/) finden Sie einen Artikel von Dirk Hülstrunk und mir über ein ausführliches Lyriklektorat anhand eines Beispiels: "Ich nenne es Warten auf Freitag. Der Prozess eines Lyriklektorats".
Ergänzend möchte ich anfügen, dass im Rahmen der Veröffentlichung eines Lyrikbandes ein Lektorat durch den Verlag üblich, aber auch nicht zwingend ist. Ob die Gedichte ohne Änderung gedruckt werden, hängt vom Verlag ab und natürlich von der Qualität der Gedichte.