Sie schrieben in der Aprilausgabe 2010 des "Tempest", dass nicht mehr geschützte Gedichte zwar nach Belieben zitiert werden dürften, dass das Zitat jedoch nicht geändert werden dürfe. Dazu habe ich eine Rückfrage. Nach § 64 Urheberrechtsgesetz erlischt das Urheberrecht siebzig Jahre nach dem Tod des Urhebers. Nach meinem Verständnis bedeutet dies, dass es für diese Werke schlichtweg kein Urheberrecht mehr gilt. Gibt es dann trotzdem noch ein Änderungsverbot für Gedichte, deren Urheberin länger als 70 Jahre tot ist?
Gerade im Bereich des Urheberrechts liegen die gefühlte – oder akzeptierte – Rechtslage und die tatsächliche oft weit auseinander. Die Frage, ob das Recht der Urheberin an ihrem Werk zeitlich begrenzt ist, so dass es nach Ablauf der Schutzfrist des § 64 Urheberrechtsgesetz ersatzlos erlischt, ist eines der Kernprobleme des Urheberrechts.
Im Kommentar zum Urheberrecht von Fromm/Nordemann (10. Auflage, 2008) heißt es unter der Randnummer 18 zu § 64 dazu: "Nach Ablauf der Schutzfrist wird das Werk gemeinfrei; es fällt in die Public Domain. Jedermann darf es vervielfältigen, verbreiten, öffentlich wiedergeben, bearbeiten, ändern oder in das Internet einstellen. Auch das Urheberpersönlichkeitsrecht endet. [...] die Urhebererben können nicht mehr bestimmen, ob ein bisher unveröffentlichtes Werk aus dem Nachlass weiterhin der Öffentlichkeit vorenthalten werden soll oder nicht [...]"
Grundsätzlich gibt es also nach Ablauf der Schutzfrist kein Änderungsverbot mehr. Jeder Text darf nach Ablauf der Schutzfrist grundsätzlich beliebig verändert werden. Typisch für das juristische Denken ist das Denken in Grundsatz und Ausnahme. Wenn eine Juristin den Begriff "grundsätzlich" verwendet, bedeutet das immer: Vorsicht, es gibt Ausnahmen!
Die zeitliche Begrenzung des Urheberrechts durch § 64 Urheberrechtsgesetz stellt eine Art der Enteignung dar. Die zeitliche Begrenzung des Urheberrechts auf 70 Jahre nach dem Tod der Urheberin hat jedoch nicht den Sinn, alle Werke auf eine Art Abfallhaufen der Eigentumsaufgabe zu werfen. Vielmehr erfolgt die zeitliche Begrenzung des Urheberrechts im Interesse der Allgemeinheit: Das Werk soll nach Ablauf der Schutzfrist von allen beliebig vervielfältigt, verbreitet oder aufgeführt werden können. Die Allgemeinheit hat jedoch ein berechtigtes Interesse an der Erhaltung ihrer Kulturgüter. Daraus ergibt sich eine Einschränkung der "Freigabe" der Werke nach Ablauf der Schutzfrist des § 64 Urheberrechtsgesetz (siehe auch Fromm/Nordemann a. a. O. § 64 Randnummer 19, und Nordemann: Das Recht der Bearbeitung gemeinfreier Werke, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1964, S. 117 ff.).
Aus der Rechtsstellung eines nicht mehr der Schutzfrist unterliegenden Werkes als Allgemeingut ergeben sich zwei Folgerungen: Zum einen darf sich nicht jede Person als Urheberin des Werkes bezeichnen. Und zum anderen begrenzt das Interesse der Allgemeinheit auch die Benutzung gemeinfreier Werke.
Was folgt daraus beispielsweise für die Rechtsstellung eines Gedichtes von Friedrich Hölderlin (1770-1843)?
Beispiel 1: Jemand veröffentlicht ein Gedicht von Hölderlin im Internet und bezeichnet sich selbst als Urheber. – Das ist unzulässig.
Beispiel 2: Jemand veröffentlicht ein Gedicht von Hölderlin in einem Kalender, gibt dabei auch Hölderlin als Urheber an, ändert aber fünf Wörter. – Auch das ist unzulässig.
Beispiel 3: Jemand veröffentlicht ein Gedicht von Hölderlin, ändert fünf Wörter und gibt sich selbst als Urheber aus. – Auch das ist unzulässig.
Beispiel 4: Jemand stellt ein Gedicht von Hölderlin ins Internet, ohne sich um Lizenzen zu kümmern. – Das ist erlaubt.
Obwohl das Urheberrecht an den Werken Hölderlins also erloschen ist, genießen die Gedichte einen gewissen Schutz durch das Urheberrecht.